Vom Deepfake der eigenen Tochter bis zum automatisierten Chatbot zur Tätersuche wird in diesem „Tatort“ kein Technik-Klischee ausgespart.
So war der „Tatort“ aus LudwigshafenAuf der Suche nach der Person hinter dem „Avatar“
Der Fall
Am Rheinufer wird ein unbekannter Toter aufgefunden. Der Mann starb an einem Herzinfarkt, doch jemand hatte ihm vor seinem Tod Pfefferspray ins Gesicht gesprüht. Die Bilder einer Überwachungskamera führen die beiden Ermittlerinnen Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Johanna Stern (Lisa Bitter) zu einer potenziellen Zeugin, die den Mann eigentlich gesehen haben muss, was sie jedoch vehement abstreitet.
Wir sehen Julia da Borg (Bernadette Heerwagen), eine Frau Mitte 40, gleich zu Beginn, wie sie sich selbst in ihrer Wohnung filmt. Ständig sitzt sie an einem Computer, der wie ihre Schaltzentrale wirkt. Dort chattet nicht nur ein Bot für sie pausenlos mit anonymen Personen, sondern die Frau spricht auch per Videochat mit ihrer vermeintlichen Tochter Sina. Schnell wird klar, dass sie nicht nur Zeugin ist. Spätestens als sie einen Laptop durchbohrt und ihn anschließend in den Rhein schmeißt, um sich dann beinahe selbst mit von der Brücke zu stürzen, wird klar, dass sie in irgendeiner Form in den Mordfall verwickelt sein muss. Sie scheint völlig neben sich zu stehen, aber gleichzeitig wie besessen, von einer unsichtbaren Kraft getrieben. Warum, fragt man sich, macht sie das alles?
Die Auflösung
Die Antwort darauf finden die Kommissarinnen bei Julias Ziehtochter Sina, die, wie sich herausstellt, gar nicht mehr lebt. Julia da Borg hatte sich die ganze Zeit mit einem Deepfake ihrer Tochter unterhalten, den sie selbst erschaffen hatte. Um mehr über Sinas Tod herauszufinden, ermitteln Odenthal und Stern im Umfeld des Mädchens und stoßen dabei auf ihre ehemalige beste Freundin Marie (Leni Deschner), die immer noch sehr unter dem Tod ihrer Freundin leidet und sich schuldig fühlt.
Während sie zunächst nur ungern mit der Polizei spricht, kommt von Marie schließlich der entscheidende Hinweis für die weiteren Ermittlungen: Vor ihrem Tod habe Sina sich in den supercoolen Nick verknallt, den sie im Internet kennengelernt hatte. Erst bei dem Treffen mit dem vermeintlichen Teenager stellte sie fest, dass er in Wahrheit ein erwachsener Mann war. Leider zu spät, denn er missbrauchte Sina brutal und drohte nach ihrem Treffen damit, freizügige Bilder von ihr zu veröffentlichen.
Der Racheversuch einer verzweifelten Stiefmutter
Hier kommt die Stiefmutter Julia wieder ins Spiel, die erst davon erfuhr, nachdem Sina, die für sie wie ihre eigene Tochter war, sich selbst das Leben genommen hatte. Kurz vor ihrem Suizid hatte das Mädchen versucht, mit ihrer Stiefmutter zu sprechen, die jedoch in diesem Moment keine Zeit zum Zuhören hatte. Getrieben von ihren Schuldgefühlen und daraus resultierenden Racheplänen, versucht Julia seitdem herauszufinden, wer dieser „Nick“ aus dem Chatverlauf von Sina wirklich war. Sie ist wie besessen davon, den Peiniger ausfindig zu machen und richtet all ihre Handlungen danach aus: die Chatbots - und auch die Morde, bei denen sie bisher allerdings die falschen Männer getroffen hatte. Das hält sie trotz zunehmender Verzweiflung keineswegs davon ab, weiter zu suchen
Und tatsächlich scheint sie „Nick“ schließlich gefunden zu haben. „Wir haben es geschafft!“, erzählt sie der digitalen Version ihrer verstorbenen Tochter auf dem Bildschirm. Sie organisiert sich eine Schusswaffe, bringt den Täter zu einem Treffen am Rheinufer und bestellt die Polizei dorthin. Als Odenthal und Stern am Fluss ankommen, können sie nur noch dabei zusehen, wie die verzweifelte Frau nicht den pädophilen Täter, sondern sich selbst erschießt.
Fazit: Ein altbekannter Tatbestand neu verpackt
Im Grunde genommen ist die Story, die hier erzählt wird, gar nicht mal so neu. Fast so lange wie es das Internet gibt, wird davor gewarnt, sich mit anonymen Personen, die man per Chat kennengelernt hat, zu treffen. Hier hat man versucht, dieses altbekannte Verbrechensmuster mit Deepfakes, Chat-Bots und „Avatar“-Identitäten in das Jahr 2024 zu holen (Buch: Harald Göckeritz). Und so wirkt dieser Tatort an vielen Stellen einfach zu konstruiert. Der Subtext: Schaut her, wie gefährlich dieses Internet ist. Das wirkt an mancher Stelle zu kurz gegriffen, zu einseitig, zu technikpessimistisch. Und auch die Art und Weise, wie die Jugendlichen hier dargestellt werden, wirkt eher unglaubwürdig. (Kann jemand bei solchen Produktionen bitte vorher einmal „echte“ Jugendliche nach ihrer Meinung fragen?)
Dennoch: Zwischen den kruden „Avatar“-Allüren glänzt Bernadette Heerwagen in ihrer Rolle als Julia, die durch den Tod ihrer Ziehtochter beinahe den Verstand verliert, aber trotzdem zielstrebig und kaltblütig vorgeht. Sie ist Mörderin von zwei unschuldigen Männern und doch ist sie auch Opfer. Diese Ambivalenz macht den Ludwigshafener Tatort durchaus spannend. Auch die Familie des Pädophilen wirft im Laufe des Tatorts viele Fragen auf. Dass hier etwas nicht stimmt, wird schnell deutlich, doch dass der Familienvater ein abscheuliches Doppelleben führt, erfährt man erst zum Schluss. Als der Lebensgefährtin klar wird, wer ihr Mann wirklich ist und sich abzeichnet, dass er Fotos und Videos ihres Sohnes als Lockmittel für seine minderjährigen Opfer benutzt hatte, schaudert es einem. Nicht zuletzt die beiden Kommissarinnen Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Johanna Stern (Lisa Bitter) mit ihrer unaufgeregten und professionellen Art machten diesen Tatort trotz allem sehenswert.
Zum Abschied der Ludwigshafener Urgesteine Keller und Becker
In dieser Folge wurden Frau Becker und Herr Keller, gespielt von Annalena Schmidt und Peter Espeloer, in die Pension verabschiedet. Frau Keller begann in den 1990er Jahren als „Vorzimmerdame“, wie man es damals noch nannte, von Kriminalrat Friedrichs (Hans-Günter Martens). Zuletzt war sie Ko-Ermittlerin im Ludwigshafener Präsidium, die es immer wieder zu überraschenden Ermittlungserfolgen brachte. Herr Becker hingegen war der Spurensicherer, gerne mal ein wenig schlecht gelaunt und doch witzig und herzenswarm.