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So war der TatortMuss Murot erst sterben, um glücklich zu sein?

Lesezeit 6 Minuten
Zu sehen ist ein schwarzer Tunnel, am Ende ein Licht. Murot geht als Silhouette direkt auf das Licht zu.

Felix Murot (Ulrich Tukur) geht ins Licht. 

„Murot und das Paradies“ ist ein gelungener und durchdachter Tatort, der tief in die Psyche des Ermittlers eintaucht. Und ihn sogar das Zeitliche segnen lässt.

Gründe zum Unglücklichsein gibt es zuhauf: Krieg, Klima, Ungerechtigkeit, Gier. Der neueste Tatort beginnt dementsprechend auf der Couch. Felix Murot (Ulrich Tukur) vertraut dem Therapeuten Dr. Wimmer (Martin Wuttke) sein Leid an. Er fühle sich wie eine Fliege, die fortwährend gegen eine Scheibe fliegt. Sie kann nicht anders, als sich immer in die nächste Lichtquelle zu stürzen.

Doch der LKA-Ermittler hat nicht viel Zeit für seine mentale Gesundheit. Er bekommt einen Anruf von Magda Wächter (Barbara Philipp) und muss die Sitzung abbrechen, um zu einem Tatort zu fahren. Aber ist es überhaupt ein Tatort? Die Tote, eine Investment-Bänkerin, zeigt keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung, sondern sieht aus, als wäre sie friedlich in ihrer Wohnung eingeschlafen. 

Das Mordopfer wirft Fragezeichen auf

Erst die Rechtsmedizinerin Dr. Kispert (Eva Mattes) kann ein wenig Aufklärung verschaffen, und damit beginnt das große Mysterium von „Murot und das Paradies“. Die Tote ist nämlich dehydriert, obwohl sie bis zur Brust im Wasser lag. Und das seltsamste: Sie hat keinen Bauchnabel. Stattdessen hat sie dort einen Port, und auch in ihrem Inneren ist alles so wiederhergestellt, dass man sie mit einer Nabelschnur füttern könnte.

Murot schaut sich in ihrer Wohnung um, und trifft dabei auf Ruby Kortus (Iona Bugarin), die behauptet, mit dem Opfer eine Liebesbeziehung geführt zu haben. Ansonsten gibt sie nur recht spärliche Infos. Was sie tue? Sie sei eine Performerin, er solle sie einfach mal googeln, am besten alleine. Auf Bitten Murots zeigt sie ihm auch ihren Bauchnabel, dort ist kein Port wie beim Opfer. 

Indes beobachten die Zuschauer den nächsten Investment-Bänker. Dieser arbeitet unter Bedingungen wie bei der Wallstreet, haut in der letzten Minute vor Zapfenstreich nochmal in die Tasten, um alle Deals unterzubringen - und versemmelt dann, kurz vor Ende, einen Haufen Geld. Als sein Vorgesetzter ihn davon abhalten will, zieht er ihm sogar eins mit der Tastatur über. Später sitzt er in seinem Lamborghini, verlangt am Telefon nach einem Termin. „Ich hab geliefert!“.

Im neuesten Tatort sucht Murot das Paradies

Offenbar bekommt er seinen Termin, denn er taucht als Leiche auf. Ebenfalls einen Port statt Bauchnabel. Dr. Kispert stellt aber noch etwas anderes fest: Sein Gehirn weist Merkmale auf, die man sonst nur von Rauschzuständen von Suchtkranken oder Menschen kennt, die unter einer bipolaren Störung leiden. Er sei in einem Glücksrausch gestorben, den man sich kaum vorstellen könne.

Über Ruby Kortus stößt das Ermittlerteam schließlich auf eine Geheimparty, zu der man nur kommen kann, wenn man am Tag des Events eine bestimmte Nummer anruft. Diese können die Ermittler beschaffen. Murot erhält von der Nummer ein Passwort, dass ihn in die Party bringt. Dort feiert die High-Society des Investment- und Bankwesens ausgelassen, und Ruby Kortus tritt als Tänzerin auf. Murot erfährt, dass bei jeder Feier eine Person in das „Paradies“ eintreten darf. 

Im Hintergrund berät sich Kortus mit einer weiteren Strippenzieherin Eva Lisinska (Brigitte Hobmeier). Was tun mit dem aufdringlichen Polizisten, der ihnen auf die Pelle rückt? Sie entscheiden sich, ihm Zutritt zum Paradies zu verschaffen. Sie führen Murot in einen kargen Raum. Darin eine krankenhausartige Liege mit einem Gerät, das man wie ein EEG-Messer am Kopf trägt. Dieses ermögliche, tief in das eigene Unbewusstsein zu dringen. Mit Drogen habe das nichts zu tun, so jedenfalls Lisinska. Man müsse es selbst erleben. 

Der Kommissar geht in die Matrix

Schon zuvor hatte Murot bemängelt, dass selbst seine Leichen glücklicher sind als er; viel Überredung braucht er nicht. Er geht in die Matrix. Während er dort träumt, fahren Lisinska und Kortus den wehrlosen Ermittler in einen anderen Raum. Auch Murot verliert seinen Bauchnabel, durchlebt seine Illusionen in einem Wassertank, versorgt über eine Nabelschnur. Er erlebt es, wieder ein Baby an der Brust seiner Mutter zu sein. Fliegt durch den Weltraum, nur gehalten von einer Schnur, verbunden am Mutterschiff. Telefoniert mit Gott. Infiltriert die Nazis und tötet Hitler. Und wird mit diesen Erfahrungen wahrhaft glücklich.

Murot liegt in einer eckigen Wanne voller Wasser, auf dem Kopf hat er einen Apparat. Er scheint zu schlafen. Aus seinem Körper laufen zwei große Nabelschnüre.

Felix Murot (Ulrich Tukur) in der Folge „Murot und das Paradies“

Als er aufwacht, hat er eine Woche lang seinen Dienst verpasst und ist seltsam zerstreut. Murot konfrontiert Lisinska. Die ominöse Firma, die hinter dem Projekt steckt, scheint Einnahmen damit zu machen, indem sie die Finanzhaie ausbeutet. Diese Einnahmen verteilt die Firma dann aber an wohltätige Zwecke, wie Robin Hood.

Also alles gut? Naja, bis auf die paar Leichen, Kollateralschäden, so Lisinska. Aber auch wenn das alles mit Drogen nichts zu tun haben soll, so zeigen diejenigen, die die Matrix betreten haben, starke Entzugserscheinungen. Tun für die Firma alles, um noch einen Termin zu kriegen. So auch Murot, der im Austausch für seinen nächsten Besuch im Tank dafür sorgt, dass die Ermittlungen eingestellt werden. Dabei zeigt er sich ebenso süchtig wie die Mordopfer, und auch ihm scheint das gleiche Schicksal zu blühen. Denn damit hat er seinen Nutzen überdauert.

Felix Murot segnet das Zeitliche

Lisinska, die Sympathie für Murot übrig hat, gönnt ihm noch ein paar Tage im Tank, dann wird die Wassertemperatur in seinem Tank radikal gesenkt, damit er erfriert. Magda Wächter sucht nach dem verschwundenen Ermittler, stürmt mit der Polizei die offiziellen Räumlichkeiten der Firma, findet dort aber nichts auf. Erst ein Hinweis seines Therapeuten führt sie ins „Paradies“. Lisinska und Kortus fliehen wegen des unangekündigten Polizeibesuchs. Wächter findet ihren Kollegen im auskühlenden Wassertank. Es scheint zu spät zu sein, er hat keinen Puls. Murot hat eine Nahtoderfahrung, blickt auf sich herab, nachdem er eigentlich schon ins Licht gegangen war. Doch er kehrt wieder zu seinem Körper zurück.

Am Ende reflektiert Murot seine Erlebnisse bei Dr. Wimmer. In der Matrix war er ein Rockstar, hatte Sex, ist im All geflogen, war Papst und hat die Kirche zugemacht. Er war jung, reich, sah gut aus. Er hatte alles. „Es war das perfekte Glück. Aber wissen Sie was. Dafür sind wir Menschen nicht gemacht. Das ist die Hölle. Wir brauchen die unerfüllten Wünsche, den Mangel, die Sehnsucht. Ich glaube, wir brauchen das Unglück, um überhaupt glücklich sein zu können.“ Der Analytiker merkt: Mit ihrer Therapie sind sie am Ende. Murot ist glücklich. 

Fazit zu „Murot und das Paradies“

„Murot und das Paradies“ ist einer dieser Tatorte, über die man noch eine ganze Weile nachdenken kann. Mit seinem psychoanalytischen Zugang, der die Folge mit der Eingangs- und Abschlussszene rahmt, findet er eine abwechslungsreiche und mit surrealen Momenten bespickte Erzählweise, um tief in die Figur des unglücklichen Ermittlers einzutauchen. Die Schauspieler machen dabei einen tollen Job, allen voran natürlich Ulrich Tukur in der Hauptrolle.

Die Inszenierung wirkt dabei manchmal etwas seltsam. Die Künstlichkeit der Hitler-Szene ergibt ja noch Sinn, weil sie mit ihrer tarantinoesquen Übertreibung auch ein Stück Filmgeschichte zitiert. Ohne Frage wird auch stark auf Matrix oder Inception angespielt. In der Animation der Weltraumszene scheint aber deutlich zu werden, wo der Fernsehfilm an seine Grenzen kommt. Da wird mächtig auf „2001: Odyssee im Weltraum“ angespielt, nicht zuletzt auch durch die Musik (Strauss „An der schönen blauen Donau“ läuft im Hintergrund). Aber es ist schon bemerkenswert, dass der Sci-Fi-Klassiker aus den 60ern besser aussieht als der gegenwärtige Fernsehfilm.

Damit will sich der Krimi aber auch nicht messen - wobei sich die Folge eigentlich nur zu Beginn als Krimi gibt. Danach wird weniger ermittelt und ordentlich durchs Unbewusste getanzt. Und dabei stellt er sich tiefgründigen, existenziellen Fragen, und hat dabei eine größere Nähe zum Mythos als zur Realität. Dass man diese Fragen womöglich anders beantwortet als der Ermittler, ändert nichts daran, dass Florian Gallenberger (Buch und Regie) und hier einen Tatort geschaffen haben, für den sich das Einschalten lohnt.