Unabhängige Produktionen triumphieren bei der 97. Oscar-Verleihung, allen voran Sean Bakers schrille Romanze „Anora“.
So waren die Oscars 2025Hollywood hat Hollywood abgewählt - für die Parodie eines Teeniefilms
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Sean Baker, Regisseur von „Anora“, mit seinen vier Oscars
Copyright: Angela Weiss/AFP
Die Spatzen pfiffen es zwar von den Dächern, aber glauben wollten man es erst, als es aktenkundig geworden war: Auch in Hollywood ist Opas Kino tot. Mehr als 60 Jahre, nachdem einige Habenichtse im kleinen Oberhausen eine Revolution des deutschen Filmsystems angezettelt hatten, triumphierte das Autorenkino auf der Weltbühne der Academy-Awards. Sean Bakers schrille Romanze „Anora“ wurde mit fünf Oscars ausgezeichnet und Baker selbst mit vieren davon: als Produzent, Regisseur, Autor und für den besten Schnitt des Films.
Eine derartige Ämterhäufung begegnet einem bei den Oscars sonst allenfalls in der Kurzfilmkategorie oder bei den Coen-Brüdern – und die legen sich für ihre Mehrarbeit wenigstens falsche Namen zu. Bei „Anora“ lässt sich hingegen nicht mehr übersehen, dass es in beinahe jeder Hinsicht ein Produkt des unabhängigen Gegenkinos ist. Angefangen beim ausufernden Gebrauch des (bei der Oscar-Verleihung weiterhin zensierten) F-Worts bis hin zum vergleichsweise lächerlichen Budget von sechs Millionen US-Dollar. Weltweit hat „Anora“ bislang 40 Millionen US-Dollar eingespielt. Keine schlechte Rendite. Aber der Gesamterlös von Bakers Werken dürfte nicht einmal dem entsprechen, was Steven Spielberg früher mit einem einzigen Familienfilm erzielte.
Conan O’Brien schält sich aus dem Rückgrat von Demi Moore
Äußerlich folgte die 97. Oscar-Verleihung dem gewohnten Drehbuch. Die weiblichen Stars (und Timothée Chalamet) führten auf dem roten Teppich Designerkleidung vor, die „Wicked“-Stars Ariana Grande und Cynthia Erivo sangen Steinerweichendes, und dann schälte sich Gastgeber Conan O’Brien (angekündigt als „viermaliger Oscar-Seher“) aus dem Rückgrat von Demi Moore – um gleich darauf auf der Suche nach einem verlorenen Schuh wieder in sie hinabzutauchen.
Man hätte in dieser prominent platzierten Persiflage des Horrorfilms „The Substance“ einen Fingerzeig sehen können. Coralie Fargeats bitterböse Abrechnung mit Hollywoods Schönheitsidealen endet nicht nur damit, dass die zum Monster entstellte Hauptfigur ihre explodierenden Gedärme über die Gäste einer Preisverleihung verteilt. Sie wurde auch noch vom kleinen Streaming-Dienst Mubi produziert.
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Zoe Saldaña nimmt den Preis für die beste Leistung einer Schauspielerin in einer Nebenrolle für 'Emilia Perez' entgegen.
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„Anora“ und „The Substance“ waren keine Ausnahmen in der Kategorie „Bester Film“, fünf von zehn nominierten Titeln kamen von unabhängigen Verleihern. „Emilia Pérez“, als Favorit ins Oscar-Rennen gestartet, ist eine französische Netflix-Produktion, „The Brutalist“ wurde von A24 finanziert, „Anora“ von Neon, „I’m Still Here“ ist ein brasilianischer Import. Das alte Hollywood war mit „Wicked“, „Dune 2“, „A Complete Unknown“, „Konklave“ und „Nickel Boys“ vertreten. In Ermangelung eines Prestigeprojekts wie „Oppenheimer“ im letzten Jahr mussten sich die großen Studios mit Trostpreisen in Nebenkategorien zufriedengeben - unter anderem für Gerd Nefzers Spezialeffekte in „Dune 2“, die einzige Ehrung, die nach Deutschland ging.
Bei einem derlei schwachen Jahrgang wären früher wohl mittelmäßige, aber gediegene Filme wie „Konklave“ und „A Complete Unknown“ zu unverdient großen Ehren gekommen. Doch sie gingen weitgehend leer aus, auch wenn Peter Straughan, dessen adaptiertes Drehbuch zu „Konklave“ die Möglichkeiten des Stoffs sträflich verschenkt, wie in alten Zeiten belohnt wurde. Es lässt sich kaum anders sagen: Hollywood, vertreten durch die rund 10.000 stimmberechtigten Mitglieder der Academy, hat dieses Jahr Hollywood abgewählt.
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Mikey Madison wurde für „Anora“ als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet.
Copyright: Angela Weis/AFP
Und es hat für die Jugend gestimmt. Zoe Saldaña („Emilia Pérez“) stach Isabella Rossellini („Konklave“) als beste Nebendarstellerin aus, beim männlichen Gegenstück ließ Kieran Culkin („A Real Pain“) die Konkurrenten Guy Pearce und Edward Norton hinter sich, und für Demi Moore hätte der Abend wohl nur deprimierender verlaufen können, hätte man der (nicht nominierten) Darstellerin ihres jüngeren Ichs die Trophäe überreicht. Stattdessen trug Mikey Madison für ihren Parforceritt durch „Anora“ die Auszeichnung davon. War ihre Rührung süßer als es Moores Tränen gewesen wären? Manchmal schlägt Talent eben Beharrlichkeit.
„Anora“ ist nicht der beste Film Sean Bakers, aber ein würdiger Nachfolger von „Everything Everywhere All at Once“, dem Oscar-Gewinner des Jahres 2023. „Anora“ ist ähnlich schrill, laut und verwegen, aber vergleichsweise geerdet. Baker erzählt darin von einer jungen „erotischen Tänzerin“, die sich von einem jungen Oligarchen-Sohn für eine wilde Partywoche als „Freundin“ mit allen, vor allem aber sexuellen Vorzügen aushalten lässt. Ihre Träume eines besseren Lebens scheinen sich zu erfüllen, als Ivan um ihre Hand anhält und beide heiraten.
Donald Trump spielte kaum eine Rolle in der Oscar-Nacht
Selbstredend kommt es anders. Die Oligarchen-Eltern schicken ihre Aufpasser vorbei, um die Ehe annullieren zu lassen, was nach slapstickartigen Verwicklungen in ein Finale mündet, in dem Ivans Mutter wie die böse Stiefmutter aus dem Märchen vom Himmel schwebt. Allerdings darf sich Anora glücklich schätzen, vor einem Leben im Falschen bewahrt zu werden. Sie hat so lange ihre Gefühle nur vorgetäuscht, dass sie erst wieder lernen muss, den eigenen zu vertrauen. Und weil die wahre Liebe schon bereitsteht, endet „Anora“ als Parodie eines handelsüblichen Teeniefilms.
Donald Trump spielte kaum eine Rolle in der Oscar-Nacht, sieht man von Andeutungen ab. Conan O’Brien beschwor die Gabe des Kinos, über Grenzen hinweg eine Gemeinschaft zu stiften, Zoe Saldaña betonte ihre migrantische Herkunft und Yuval Abraham, Ko-Regisseur des auch auf der Berlinale ausgezeichneten Dokumentarfilms „No Other Land“, kritisierte in seiner Dankesrede die Palästina-Politik der US-Regierung und die „Gräueltaten“ im Gaza-Streifen.
Den Verwüstungen der kalifornischen Feuer wurde mit einem Auftritt von Feuerwehrleuten gedacht. Conan O‘Brien überließ den Geehrten einige seiner Gags, empfahl sich ansonsten aber nicht unbedingt für eine Wiederkehr. Er führte routiniert durch einen Abend, der sich kaum von den stets etwas bemüht wirkenden Feierlichkeiten vergangener Zeiten unterschied. Dass diese Oscar-Nacht eine erinnernswerte war, lag allein an seinem Hauptdarsteller. Sean Baker trug so viele Trophäen nach Hause, wie an einem einzigen Abend niemand zuvor.