Soll man die Lebensrealität von armen Menschen in Deutschland im Fernsehen abbilden? Die Kölner Produktionsfirma Ufa Show & Factual macht das erfolgreich mit „Hartz und herzlich“ und weist Voyeurismusvorwürfe zurück.
Sozialdokus wie „Hartz und herzlich“Voyeurismus oder nötige Abbildung der Realität?
Üppig geschmückte Weihnachtsbäume, Geschenkeberge, Kerzen, aufwendige Menüs, Silvesterpartys, Skiurlaube zum Jahresbeginn - gerade in den Tagen rund um Weihnachten und Silvester hat es bei Social Media oft den Anschein, alle um einen herum lebten in Wohlstand und Luxus. Für viele Menschen sieht diese Zeit allerdings anders aus. Wer auf jeden Cent achten muss, hat für teure Geschenke, edlen Champagner oder Reisen kein Geld. Die Realität von armutsbedrohten Menschen blenden wir allerdings oft lieber aus.
Doch es gibt Sender, allen voran RTL2, die füllen lange Programmstrecken mit eben dieser Realität. Sogenannte Sozialreportagen wie „Hartz, Rot, Gold“ und „Armes Deutschland“ bilden ab, was Menschen am Rande der Gesellschaft erleben. Und während die einen loben, dass hier endlich einmal gezeigt werde, wie die Realität in einkommensschwachen Vierteln aussieht, beklagen andere Voyeurismus aus dem niederen Instinkt, jenen zuschauen zu wollen, denen es schlechter geht als einem selbst.
Gedreht wird in ganz Deutschland, auch Köln war schon Schauplatz
Ralf Jühe weiß, dass solche Formate umstritten sind. Er ist als Executive Director Factual & Reality bei der Kölner Produktionsfirma UFA Show & Factual für eines der Urgesteine dieses Genres zuständig: „Hartz und herzlich“, das seit 2016 bei RTL2 läuft und zurzeit am Nachmittag und Abend gezeigt wird.
Das Format, das auf der englischen Doku „Benefit Street“ basiert, begleitet Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, in ihrem Alltag. Die Schauplätze wechseln darin regelmäßig. „Wir schauen uns an, welche Regionen eine Bündelung von Armut haben“, sagt er. „Es muss eine räumliche Nähe geben, dass möglichst viele Menschen in einem vergleichbaren nachbarschaftlichen Umfeld leben und es eine gewisse Altersstruktur gibt, die uns, aber auch dem Sender wichtig ist.“
Und so dreht sein Team in ganz Deutschland. In Bergheim und Bitterfeld, in Köln-Bickendorf und Frankfurt/Oder. „Wir haben mit dem Programm in Welten geschaut, wo kaum andere Formate bisher reingeschaut hatten. Wir wollten eben nicht in ein Ghetto gehen, in dem es nur Plattenbauten und Hochhäuser gibt, wir wollten zeigen: Das ist ein Viertel, da leben viele sozial schwache Menschen, und die halten zusammen in ihrer Welt“, sagt Jühe.
Vier Monate sind die Teams vor Ort, drehen von montags bis freitags, leben in der Gegend, in der auch die Protagonisten leben. Ein Casting gebe es nicht, auch keine Aufrufe oder Aushänge. „Das ist keine Show und kein Quiz-Format, die Leute lassen uns in ihr Leben. Das ist ein Riesenschritt.“ Man spreche mögliche Protagonisten direkt an. „Die Leute, die diese Menschen finden, sind auch die Menschen, die nachher mit den Leuten drehen, damit eben dieses Vertrauen vom ersten Kontakt bis zu den Dreharbeiten und bis zum Ende durchgehend erhalten bleibt“, sagt Jühe. Mit allen sei man auch später noch im engen Austausch.
Eine, die sich begleiten ließ, ist Astrid Strothmann. Die 59-Jährige lebt in Leverkusen in einer Einzimmerwohnung mit ihren Katzen. Sie habe ihr Leben lang viel und hart gearbeitet, erzählt sie, aber aufgrund von Arthrose und einer Kapselentzündung bezieht sie seit 2009 Erwerbsminderungsrente. In ihrer kleinen Wohnung stehen alle Wände voll mit Konserven und anderen lang haltbaren Lebensmitteln, die sie kauft, wenn sie im Angebot sind. Der kräftigen Frau mit dem strengen Zopf gibt das ein Gefühl von Sicherheit. Sie will für mögliche Krisen gewappnet sein.
Strothmann wurde vor einem Supermarkt von Produktionsmitarbeitern gefragt, ob sie bei „Hartz und herzlich“ mitmachen wolle. Sie kannte das Format, und ihre Reaktion war eindeutig: „Toll, super, endlich.“ Bedenken, ein Kamerateam über einen längeren Zeitraum in ihre Wohnung zu lassen, hatte sie nicht. „Ich bin auch ansonsten nicht Kamera scheu.“
Strothman wünscht sich mehr Respekt für Menschen in ihrer Lage. „Ich war immer aktiv. Ich war immer unterwegs, ich bin nicht der Mensch gewesen, der nur rumgesessen hat und nichts getan hat.“ Aber gerade die Jobs in der Gastronomie seien sehr kraftraubend gewesen und hätten zu den gesundheitlichen Problemen geführt, die sie hat. Dennoch habe sie oft noch Nebenjobs gemacht und das dazuverdient, was sie verdienen durfte.
Sie ließ sich filmen bei dem Versuch, über Tinder einen Partner zu finden, oder wie sie sich um ihre Katzen kümmert: „Es ging immer um das ganze Leben, um Arbeit, Wohnung, Beziehungen, Familie.“ Alles habe sie mit dem Team besprochen. Sie habe nie bereut, mitgemacht zu haben. Es sei wichtig, den Tagesablauf von Menschen, denen es nicht so gut geht, im Fernsehen zu zeigen: „Wie sie in diesen Zustand gekommen sind und wie sie ihr Leben meistern müssen mit dem, was sie haben. Das finde ich so faszinierend, dass man sich immer zu helfen weiß.“
Vieles wird im Schnitt entschieden, aber es werde nie wertend eingegriffen
Ralf Jühe ist es wichtig zu betonen, dass bei den Dreharbeiten nicht eingegriffen werde: „Es ist null gescriptet. Es gibt kein Drehbuch. Wir müssen einfach dran glauben, dass das Leben die spannendsten Geschichten erzählt.“ Vieles werde im Schnitt entschieden, aber auch dort greife man nicht verstärkend ein: „Wir werten nicht, vielleicht durch die Auswahl der Szenen, aber nicht im Text. Wir spitzen auch nicht zu. Mir ist immer an einer gewissen Ausgewogenheit gelegen.“
Doch die gezeigten Szenen sind zum Teil schwer zu ertragen. Da sieht man ungepflegte Wohnungen oder Menschen, die sich eher eine Spielekonsole kaufen, statt den Kühlschrank zu füllen. Ralf Jühe hält es dennoch für wichtig, auch solche Szenen zu zeigen. Das Team greife da auch nicht ein. „Das ist auch nicht unsere Aufgabe, wir würden uns ja erheben. Wir sind sehr davon überzeugt, dass durch die Ausstrahlung und durch die Reaktionen darauf auch gewisse Lerneffekte einsetzen“, sagt der Produzent. „Es ist wichtig, dass wir in einem ausgewogenen Maße abbilden, was passiert. Wir würden uns schuldig machen, wenn wir nur darauf lauern würden, dass es Verfehlungen gibt.“
Menschenzoo, Elendstourismus - Jühe und seine Kolleginnen und Kollegen kennen diese Vorwürfe. Doch die Kritik, wie sie etwa der Medienwissenschaftler Bernd Gäbler äußerte, der den Machern solcher Formate vor einigen Jahren in einer Studie für die Otto-Brenner-Stiftung vorwarf, die Unterschichten vorzuführen, weist er zurück. Gäbler habe nicht ein einziges Mal mit den Machern gesprochen: „Klaus Hurrelmann, ein anerkannter Sozialwissenschaftler, hat über ‚Hartz und herzlich‘ gesagt, es sei längst überfällig gewesen, ein solches Format zu machen, damit die Öffentlichkeit mal sieht, wie Armut in Deutschland aussieht.“
Ist es also Mitgefühl oder doch heimliche Schadenfreude, die die Zuschauer antreibt, einzuschalten? Ralf Jühe glaubt, es gebe alle Motivationen. Er jedenfalls sei mit dem Format vollkommen im Reinen: „Wir haben für viele Menschen ein Licht geschaffen, eine Öffentlichkeit, die sie sonst nie bekommen hätten und die damit auch sehr gut umgehen können.“