„Squid Game“ ist die erfolgreichste Netflix-Show aller Zeiten. Jetzt filmt der Streamingdienst die Spiele der Serie als echten Wettbewerb.
„Squid Game“Jetzt lässt Netflix echte Kandidaten zum gefährlichen Spiel antreten
Wie im Kriegsgebiet hätten sich die unterkühlten Teilnehmer gefühlt, einige mussten mit Bahren vom Spielfeld getragen werden, andere konnten nur noch ins Ziel kriechen. Hunderte mussten heulend und blutdurchtränkt aufgeben. Ort der Handlung ist ein ehemaliges Gelände der britischen Luftwaffe in Bedford. Hier dreht Netflix derzeit „Squid Game: The Challenge“. Keine Fortsetzung der koreanischen Erfolgsserie, sondern deren Übertragung ins reale Leben. Oder zumindest ins Reality-TV-Leben.
„Squid Game“ erzählt von einem geheimen Wettbewerb, bei dem 456 hoch verschuldete Menschen in einer Reihe von Kinderspielen gegeneinander antreten, die für die Verlierer jeweils tödlich enden. Am Ende überlebt nur ein Spieler, ihm winkt ein Millionengewinn.
Auch in „Squid Game: The Challenge“ konkurrieren 456 Spieler um einen Bargeldgewinn, der fällt mit 4,56 Millionen Dollar freilich erheblich geringer aus als in der fiktiven Vorlage. Die „mörderischen“ Kinderspiele bleiben indes dieselben, selbst wenn hier niemand wirklich stirbt. Die Teilnehmer tragen mit Kunstblut gefüllte Westen, die zerplatzen, wenn sie eine falsche Bewegung machen.
Und die Tränen, von denen Teilnehmer im Boulevard-Blatt „The Sun“ berichtet hatten? Sie waren der Enttäuschung geschuldet, gleich beim ersten Spiel ausgeschieden zu sein: Wer sich bei „Rotes Licht, grünes Licht“ noch bewegt, wenn die riesige Roboterpuppe ihm den Kopf zudreht, wird „erschossen“.
Die Botschaft von „Squid Game“ wird als Spielvorlage missbraucht
„Squid Game“ ist immer noch die erfolgreichste Serie des Streaming-Giganten. Eine zweite Staffel ist in Arbeit, doch bis die zu sehen ist, wird noch einige Zeit vergehen. Die Show von Hwang Dong-hyuk war ein Überraschungserfolg, eine Fortsetzung ursprünglich nicht geplant. Stattdessen also ein vulgär-darwinistisches Cosplay-Event, das die Botschaft des Stoffes als Spielvorlage verwendet.
Die Kapitalismuskritik von „Squid Game“ ist in etwa so subtil wie die in einem Brecht’schen Lehrstück: Das Top-Prozent der Reichsten gaukelt den hoch verschuldeten 99 Prozent Aufstiegschancen vor, während es sie als austauschbare Lohnsklaven ausbeutet. Es war wohl gerade die holzschnittartige Metaphorik von „Squid Game“ und deren drastische Umsetzung im Bild, die weltweit auf so große Resonanz stießen.
Doch die manifestierte sich wahrscheinlich nur bei den Allerwenigsten in dem Wunsch, auch einmal gegen andere arme Schlucker in einem Kinderspiel mit garantiert tödlichem Ausgang anzutreten. Was Netflix nun offiziell als „riesigen Wettbewerb und soziales Experiment“ anpreist, wirkt deshalb eher wie ein absichtliches, man darf auch sagen: zynisches, Missverstehen der Serie.
Oder sind wir da nur etwas schwer von Begriff? Schließlich ist „Squid Game“ ja selbst ein kapitalistisches Märchen. Das kleine koreanische Programm, das im Alleingang die Netflix-Shareholder von der globalen Strategie des Streamingdienstes überzeugt hat. Die Parabel vom manipulierten Kampf aller gegen alle als Content, der in jedem Land sofort verstanden wird.
Außerdem: Besteht nicht seit jeher eine unausgesprochene Verwandtschaft zwischen Dystopie und Reality-Fernsehen? Fußen zum Beispiel nicht alle Shows, in denen psychisch labile Fremde auf engem Raum zusammengepfercht werden – von „Big Brother“ bis zum Dschungelcamp – auf William Goldings böser Robinsonade „Herr der Fliegen“?
Apropos „Big Brother“: Auch kein Zufall, dass Endemol sein Container-Format nach der Symbolfigur vollständiger Überwachung aus George Orwells „1984“ benannt hat. Grob vereinfacht könnte man festhalten: Reality-TV ist gelebte Dystopie.