Sterbehilfe-Drama in der ARDFerdinand von Schirach lässt uns Gott spielen
- Ferdinand von Schirachs ARD-Gerichtsstück „Terror - Ihr Urteil“ war 2016 ein Sensationserfolg.
- Jetzt lässt das Erste sein Publikum wieder über ein Reizthema abstimmen: In von Schirachs „Gott“ geht es um Sterbehilfe.
- Aber gehen Abendunterhaltung und ethische Debatten hier wirklich gut zusammen, fragt sich unser Kritiker.
Köln – Die Kulisse, eine fiktive „Wissenschaftsbibliothek“ mitten in Berlin, lädt zum Verweilen ein: kluge Bücher, edle Hölzer, warme Farben. Im Hintergrund bodentiefe Fenster mit Ausblick auf den langsam in der Dämmerung versinkenden Pariser Platz. Das anheimelnde Bild lullt den abendlichen ARD-Zuschauer ein, er kann sich auf der Couch zurücklehnen und andere ermitteln lassen. Tatsächlich ist hier aber seine Meinung gefragt. Es geht um Leben und Tod.
Schirachs Gerichtsstück „Terror“ war ein Sensationserfolg
Als Ferdinand von Schirach 2009 mit seinem Kurzgeschichtenband „Verbrechen“ ein Überraschungserfolg gelang — das Buch hielt sich 61 Wochen lang auf der Spiegel-Bestsellerliste —, wurde aus dem Strafverteidiger ein Autor. Die Erzählungen in „Verbrechen“ beruhten auf Fällen aus seiner Kanzlei. Sechs Jahre später überraschte von Schirach dann als Dramatiker. Noch überraschender war allerdings, dass sich die Erfolgsgeschichte wiederholte.
„Terror“ war als auf strikten Realismus setzendes Gerichtsstück zwar ästhetisch ein alter Hut. Doch der Streitpunkt der Verhandlung stieß auf brennendes Interesse: Ein Jagdflieger hatte wider Befehl eine von Terroristen entführte Passagiermaschine abgeschossen, die gerade Kurs auf ein ausverkauftes Fußballstadion genommen hatte. Am Ende vereidigte von Schirach das Publikum gewissermaßen als Schöffen und ließ es nach einer kurzen Pause in einer Live-Abstimmung über Schuld oder Unschuld entscheiden. „Terror“ bestimmte Mitte der Zehner Jahre die Spielpläne, weltweit wurde es über Hundert Mal inszeniert. Und als die ARD das Stück 2016 unter dem unfreiwillig doppeldeutigen Titel „Terror — Ihr Urteil“ adaptierte, wurde der Fernsehfilm zum erfolgreichsten des Senders in jenem Jahr.
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Da ist es eine Selbstverständlichkeit, dass das Erste auch von Schirachs zweites Stück verfilmt. „Gott“ hatte erst im September seine Doppel-Uraufführung im Berliner Ensemble und im Düsseldorfer Schauspielhaus gefeiert, die Dreharbeiten müssen also mindestens zeitgleich stattgefunden haben. Wie schon bei „Terror“ hat Lars Kraume („Der Staat gegen Fritz Bauer“) die Regie übernommen und kann erneut mit Film- und Bühnenkünstlern der ersten Reihe arbeiten, darunter Barbara Auer, Matthias Habich und Ulrich Matthes. Den Rechtsanwalt Biegler, der hier erneut als Alter Ego des Autors agiert, spielt wieder Lars Eidinger.
Und selbstredend wird auch hier, nach der Ausstrahlung am Montagabend, das Publikum im Rahmen einer „hart aber fair“-Sendung abstimmen. Worüber? Über das Recht des 78-jährigen Richard Gärtner (Habich) auf Sterbehilfe. Der Architekt im Ruhestand ist geistig und körperlich noch auf der Höhe, er ist weder todkrank noch depressiv. Aber nach dem Tod seiner Frau will er einfach nicht mehr. „Sie ist weg. Und ich bin noch da. Das ist nicht richtig“, formuliert es Gärtner in von Schirachs verknappter Sprache.
Tolle Schauspieler für leblose Pappkameraden
Das Bundesverfassungsgericht hat die Streitfrage bereits im vergangenen Februar zugunsten des Sterbewilligen entschieden: „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“ Weshalb der Autor nun den Deutschen Ethikrat über die moralischen Implikationen dieser Entscheidung diskutieren lässt. Der Fernsehzuschauer darf dem Urteil sein Plebiszit nachreichen.
Wie das ausfällt, ist leider von vorneherein klar. Von Schirach hat alle Bedenkenträger als naive Pappkameraden auf seinem argumentativen Schießstand angelegt: Götz Schubert verströmt als Ärztekammer-Präsident nur die vorgebliche Arroganz seines Berufsstandes und muss sich vom erregten Habich angehen lassen, der dramaturgisch günstig, erst nach seinem wortreichen Gefühlsausbruch zur Ordnung gerufen wird. Ulrich Matthes verstrickt sich als Vertreter der Bischofskonferenz in die Paradoxien seines Glaubens und wird von Eidinger mit der pubertären Gewissheit eines Nietzsche-Erstlesers auseinandergenommen. Und Ina Weisse — die als „Dr. Keller“ für den Ethikrat die Position vertritt, dass es nicht Aufgabe des Staates sei, Menschen beim Suizid zu assistieren — hat ihr Schlussplädoyer aus Binsen wie „ohne Solidarität sind wir keine Menschen mehr“ zusammengezimmert.
Nicht dass die Gegenseite lebhafter oder sagen wir besser: lebensähnlicher wirkte. Auch hier werden Statistiken heruntergerattert, Wikipedia-Artikel kopiert und eingefügt, und Siri-Fragen à la „Wie ist die Sterbehilfe in der Schweiz gesetzlich geregelt?“ gestellt. Selbst so tolle Schauspielerinnen wie Anna Maria Mühe und Christiane Paul wirken hier wie die verirrten Avatare von Social Bots, die brav Lebensdaten auflisten und Fremdwörter übersetzen, so lange die Stromversorgung gewährleistet ist.
Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass der Autor, der hier feierliche Plädoyers für die Autonomie des Menschen halten lässt, für das Recht jedes Einzelnen auf sein Leben und sein Sterben, seinen Figuren jegliches Eigenleben verwehrt. Einzig in der Figur des Bischofs blitzt ein wenig Tragik auf. Vielleicht, weil sich seine Überzeugungen juristischer Logik entziehen. Vielleicht, weil Ulrich Matthes diese Tragik selbst in einer textlichen Totgeburt wie „Gott“ zu finden vermag.
Am Ende der Verhandlung durchbricht Barbara Auer als Vorsitzende des Ethikrates die vierte Wand und wendet sich direkt an die Zuschauer vor den Bildschirmen. Jetzt könne jeder nach eigenem Wissen und Gewissen urteilen. Was ein schlechter Witz ist, wenn man zuvor anderthalb Stunden lang mit den Vorurteilen des Autors bombardiert wurde.
Das Erste zeigt „Gott“ am Montag um 20.15 Uhr.