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Erfolg von „Stranger Things”Wie eine Serie retrokitschig und topaktuell sein kann

Lesezeit 6 Minuten
Stranger Things eins

Eleven und ihre Freunde wollen Hawkins retten - mindestens.

Hawkins/Köln – „Stranger Things“ ist eine der erfolgreichsten Netflix-Serien aller Zeiten. Das liegt nicht nur am kuschelig-gruseligen Retro-Gefühl und der 80er-Jahre-Mode. Denn die Serie behandelt Themen, die brandaktuell sind. Für alle, die die vierte Staffel noch nicht gesehen haben: Dieser Text enthält Spoiler.

Auf der Suche nach den Gründen für den anhaltenden „Stranger Things“-Hype, sollte man unbedingt einen Post mit Namen „On Top of that Hill“ lesen. Zu finden ist dieser Post auf der Webseite der Sängerin Kate Bush, die mit „Running Up That Hill“ den ultimativen Song für die Serie geliefert hat. Erschienen ist der schon vor 37 Jahren, seit Staffel vier veröffentlicht wurde, rangiert Bush in den Musik-Streaming-Charts damit ganz oben.

Kate Bush formuliert dann auch in zwei Sätzen, was „Stranger Things“ ausmacht: „In der jüngsten Staffel haben die Charaktere mit vielen der Herausforderungen zu tun, die auch in Wirklichkeit gerade existieren. Ich glaube, dass die Duffer Brüder die Herzen der Leute auf besondere Weise erreicht haben, in einer Zeit, die unglaublich schwierig für alle ist – besonders für jüngere Menschen“, schreibt Bush.

Stranger THings zwei

Kate Bush.

Ein Mini-Abriss für alle, die die Serie noch nicht gesehen haben: „Stranger Things“ spielt in den 80er Jahren und erzählt die Geschichte eines Mädchens mit übernatürlichen Kräften, das in Hawkins, einer fiktiven Kleinstadt in Indiana, auftaucht, das kaum spricht, dem Zwischenmenschliches fremd ist und das offenbar Schlimmes erlebt hat. Eleven, in der deutschen Übersetzung heißt sie „Elfi“, findet in den vier Nerds Dustin, Mike, Will und Lucas Freunde, und gemeinsam bekämpfen sie hässliche Monster aus einer anderen Welt. Staffel eins zeigte Netflix 2016, gerade wurde Staffel vier veröffentlicht. Die Serie gilt als eine der erfolgreichsten Netflix-Produktionen überhaupt, nur „Squid Game“ rangiert (derzeit) noch weiter vorn. Dass das so ist, hat viele Gründe.

Das Setting

Einer ist das Setting, das absolut konsequent umgesetzt wurde: „Stranger Things“ spielt zu Beginn Anfang der 80er-Jahre und sieht auch genau so aus: Es gibt Dauerwellen, knallbunte Farben und toupierte Haare, Karottenhosen und große Brillen, geschmacklos-braune Sitzgruppen, riesiggroße Funkgeräte und Rollschuh-Discos, die Jungs sind passionierte „Dungeons and Dragons“-Spieler und lieben die Ghostbusters. Zudem ist die Serie voll mit popkulturellen Referenzen, wer die 80s zumindest halbbewusst mitbekommen hat, denkt an Filme wie die „Goonies“, an „E.T.“, an „Stand by me“, der Soundtrack könnte problemlos „Best of 80s“ heißen.

Viele Stars, die in den 80ern bekannt wurden oder waren, haben Auftritte: allen voran Winona Ryder, außerdem Sean Astin, der in den „Goonies“ mitspielte, Rob Reiser, bekannt aus „Alien“ oder „Beverly Hills Cop“, Matthew Modine aus „Full Metal Jacket“ und Freddy-Krueger-Darsteller Robert Englund.

Stranger Things 3

Bekannt aus den 80ern: Schauspieler Paul Reiser.

„Stranger Things“ spielt vor der Globalisierung, vor dem Internet und Social Media, vor völliger Transparenz. Es spielt zu einer Zeit, als die Welt, in der man lebte, noch in sich geschlossener war – sie war womöglich klarer, übersichtlicher, dadurch automatisch auch kleiner. Und doch, oder vielleicht auch grade deswegen, beschreiben viele Menschen die 80er als ihre Sehnsuchtszeit.

Der Wunsch, dazu zu gehören

Während die Freunde in Staffel eins noch Kinder waren, sind sie jetzt, in Staffel vier, Jugendliche. Und alle kämpfen irgendwie mit ähnlichen Problemen. Eleven, die am Ende der letzten Staffel ihre übernatürlichen Kräfte verloren hat und mit der Familie Byers nach Kalifornien gezogen ist, will von den beliebten Mädchen an der Schule gemocht werden, Will fühlt sich dort verloren und will doch auf Eleven aufzupassen, Lucas will endlich erfolgreich Basketball spielen und in den Augen der Team-Kollegen cool sein, Dustin und Mike wollen im „Hellfire Club“ aufgenommen werden und mit dem gefährlich-coolen Eddie „Dungeons and Dragons“ spielen. Alle sind mehr oder weniger bereit sich zu verbiegen, um angenommen zu werden, alle kennen das Gefühl der Einsamkeit, alle wollen zu einer Gruppe gehören.

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Wer von sich behauptet, dieses Gefühl aus der Pubertät nicht zu kennen, lügt. Und genau das ist die Pest an dieser Zeit: dass man unbedingt erwachsen werden will, aber keine Idee hat, wie genau das funktioniert, dass man keine Vorstellung von dem Ich hat, das man eigentlich sein will, dass einem vor lauter Hormonirrsinn häufig die Sicherheit fehlt zu glauben: So, wie du bist, bist du okay.

Upside Down für zu Hause

Musikalischer Ausweg Wer beim Musik-Streamingdienst Spotify nach „Upside Down Playlist“ sucht, bekommt eine ganz persönliche Titelliste, die dabei helfen soll, Vecna und dem Upside Down zu entkommen.

Erinnerung Vecna, das ist das ultimative Böse aus Staffel vier der Serie „Stranger Things“, Upside Down ist der Ort, an dem Vecna zu Hause ist.

„Stranger Things“ beschreibt über die Entwicklung der Freunde damit ein Problem, das sich noch verschärft hat. Erwachsenwerden, das dürfte heute noch viel schwieriger sein. Wegen schöner Menschen auf Instagram und auf Tiktok, weil die Vergleichbarkeit allein durch die Sichtbarkeit um ein Vielfaches gestiegen ist. Damit umgehen, das einordnen zu lernen und gleichzeitig sich seiner selbst gewiss zu sein, ist eine gigantisch große Aufgabe für junge Menschen – und ja, das klingt aus dem Mund einer 43-Jährigen vermutlich sehr tantig. Es ist aber ausschließlich mitfühlend gemeint.

Die Schwierigkeit, wirklich zu reden

Die vierte Staffel ist deutlich düsterer, gruseliger geworden als die vorherigen, es brechen Knochen und Kiefer, bluten Augen. Es geht mittenrein in diese Welt des Upside Down, und es geht mitten rein in die traumatischen Erlebnisse und Erinnerungen der Teenager, die Vecna – das ultimativ Böse in Staffel vier (und in Wahrheit auch in eins bis drei) – sich holt. Er schleicht sich ein ihren Geist, in ihre Träume und Köpfe, er spült alles Schlimme immer wieder hervor. Was die Opfer eint: Sie haben Schreckliches erlebt, und das lässt sie nicht los. Wenn sie leise Versuche machen, darüber zu reden, bekommen sie nicht ausreichend Hilfe; manche von ihnen können gar nicht erst darüber reden. Dass sie das Schlimme in sich verschließen, ist Vecnas Chance.

Genau hier kommt Kate Bush ins Spiel. Ihr Song „Running Up That Hill“ ist der Herzenssong von Max, er tröstet sie, lässt sie an Gutes aus der Vergangenheit denken, lässt ihr Innerstes, das vor Trauer und Scham und Angst dunkel ist, wieder heller werden – und indem ihre Freunde das erkennen, retten sie sie.

Neuer Inhalt (1)

US-Regisseur Matt Duffer (L), die britische Schauspielerin Millie Bobby Brown (C) und US-Produzent Ross Duffer bei der Premiere von "Stranger Things" Staffel 4 bei Netflix Brooklyn in New York City.

Auch dieses Thema ist heute aktuell - und zwar altersübergreifend: Die Hosen runterzulassen, nicht immer mit einem letztlich nichtssagenden "alles gut" Zuckerguss über Dinge zu schmieren, sondern gerade über das zu sprechen, was einem zusetzt, über die unschönen Seiten und dunklen Flecken, das ist unfassbar schwer. Wenn das Jugendlichen aus sich heraus nicht gelingt, ist das kein Wunder, sondern nur sehr menschlich – sie brauchen aufmerksame Menschen: Familie, Freunde, Eltern, die Patentante, irgendwen, der signalisiert: Ich nehme dich ernst. Übrigens: Für viele Erwachsene gilt das gleiche.

Der Wunsch nach Helden und Hoffnung

„Stranger Things“ ist natürlich auch eine Heldengeschichte: Eleven entscheidet sich dafür, ihre Kräfte für das Gute, für die Bekämpfung des Bösen einzusetzen, ihr Zieh-Vater Hopper riskiert sein Leben in einem russischen Gefängnis, um seine Tochter und die Welt zu retten, Hellfire-Eddie opfert sich selbst, um seinen Freunden Zeit zu verschaffen, Max bietet sich Vecna als Köder an und bezahlt dafür einen hohen Preis.

Stranger Things 4

Die Helden müssen in Staffel vier an besonders vielen verschiedenen Orten kämpfen.

Helden, grade dann, wenn sie nicht daherkommen wie Klischeehelden, wenn sie nicht perfekt und fehlerlos sind, sondern einfach menschlich, geben Hoffnung, dass alles gut werden kann, dass jeder Einzelne einen Einfluss hat – im Großen wie im Kleinen. Und ein aktuelleres Thema als Hoffnung, das dürfte es nicht geben in dieser Zeit.