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Streaming-DiensteIst Netflix der Tod der Filmgeschichte?

Lesezeit 4 Minuten

Kurze Verweildauer im Kino: Der Film „Don’t Look Up“ mit Leonardo di Caprio (hinten links) und Meryl Streep (vorne rechts) 

Köln – Im Jahre 1952 wurde durch die englische Filmpublikation „Sight and Sound“ eine Liste der besten Filme aller Zeiten veröffentlicht. Es war die erste ihrer Art, und als die besten drei gingen aus der Umfrage „Fahrraddiebe“ (1948), „Lichter der Großstadt“ (1931) und „Goldrausch“ (1925) hervor. Seither erfolgte alle zehn Jahre eine neue Abstimmung, die letzte ergab 2012 diese Reihenfolge: „Vertigo“ (1958), „Citizen Kane“ (1941) und „Die Reise nach Tokyo“ (1953). „Sight and Sound“ befragt dabei stets eine internationale Kritikerschaft, seit 1992 in einer parallelen Auszählung auch Regisseure. Die Schnittmenge zwischen den jeweiligen Listen ist dabei überraschend groß. Und es zeigt sich, dass in diesen Listen nicht möglichst aktuelle amerikanische Filme auftauchen, wie das sonst bevorzugt und vor allem im Internet der Fall ist.

Was aber ist Filmgeschichte, und wieso ist es wichtig, dass sie nicht allein dem Zeitgeist zugeordnet wird? Dafür muss man sich klar machen, dass jede Geschichtsschreibung vorherrschende gesellschaftliche Rahmenbedingungen spiegelt. In Sachen Film aber fällt der Überblick zusehends schwer, denn nie zuvor wurden so viele Filme weltweit produziert und zur Veröffentlichung gebracht. Nie war es unübersichtlicher. Nie erschien ein Leitfaden darüber, was es denn gibt, sinnvoller. Aber genau der bleibt aus.

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Wie aber konnte der Überblick verloren gehen? Bis zum Ende der 1950er Jahre war das Kino der alleinige Wahrnehmungsort für Filme. In den 1960er Jahren kam das Fernsehen hinzu, das Kinofilme prominent vorstellte und in Filmreihen (Themen, Regisseure, Schauspieler) ordnete. In den 1980er Jahren steigerte sich der Produktionsspiegel, weil es zwei weitere Verbreitungswege für Film gab: das Privatfernsehen und den Videomarkt, für den eine zunehmende Anzahl Filme exklusiv (direct-to-video) produziert wurde. Am Ende des Jahrzehnts sorgte die Schiene des Bezahlfernsehens für zusätzlichen Absatzschub. Seit Mitte der 2000er Jahre ist der Filmmarkt schrittweise auf digitale Trägermedien umgestiegen – was die Kosten für den Vertrieb eklatant senkte. Im Gegenzug aber konnten Filme nun mühelos illegal kopiert und im Internet verfügbar gemacht werden.

In der zweiten Hälfte der 2010er Jahre kamen schließlich die Streaming-Plattformen hinzu, die frische Filme als Verkaufsmagneten erstellten. Zugleich wurden die Auswertungsfenster für Film als Bezahlware immer knapper gefasst. Im Exzess führte das dazu, dass der Disney-Konzern den Blockbuster „Black Widow“ zwar in die Kinos brachte, in den USA aber schon am Folgetag auch auf seinem Streaming-Dienst verbreitete. Ähnlich kurz war die Verweildauer im Kino für den mit Weltstars gespickten aktuellen Netflix-Film „Don’t Look Up“.

„Was beliebt, ist auch erlaubt“, schrieb Wilhelm Busch. Was stimmt. Es beinhaltet aber auch, dass immer mehr vom Beliebten nicht zwangsläufig zu mehr Vielfalt führt. Wenn Filme einen Weltmarkt zu bedienen haben und auch auf politisch restriktiven Territorien Kasse machen sollen, dann ist künstlerischer Wagemut oder inhaltliche Risikobereitschaft kaum zu erwarten. Hollywoods Blockbuster zeigen das seit zehn Jahren; Filme wie „Green Book“ oder „Spotlight“ bestätigen als Ausnahmen die Regel.

Was aber haben nun die immer schnellere Jagd nach Geld und ein Anwachsen der Filmproduktion mit einem möglichen Niedergang der Filmgeschichte zu tun? Es ist eben wichtig, dass es nicht bloß Produkte gibt, sondern diese auch eine Wertschätzung erfahren. Ein Marktgeschehen, das sich immer stärker auf immer schnellere Kasse für immer größere, teurere Filme kapriziert, verkauft sich an Ansprüche, die nach immer neuen Sensationen in immer kürzerer Zeit verlangen. Seit den 90er Jahren bestimmt der Jugendmarkt zwischen 12 und 16 zunehmend über Erfolg und Misserfolg und damit über das, was überhaupt produziert wird. Hier liegt auch der Grund dafür, dass Streaming-Dienste nach dem Erfolg von „Dark“ und „Stranger Things“ über Jahre hinweg fast nur noch Mystery- und Krimiserien erstellten – oder dass die erfolgreichsten Kinofilme 2021 (James Bond, Spider-Man) auf bewährten Marken und bewährter Machart fußten.

Nur noch zum Sofortverzehr

Wenn aber Filme nur noch für den Sofortverzehr erstellt und vertrieben werden, sinkt zwangsläufig die Aufmerksamkeitsspanne für das Einzelwerk. Wer einen Film im Abo streamt, kann auf Wunsch schon nach Sekunden zu einem anderen Film wechseln. Algorithmen stellen die Weichen für ein solches Konsumentenverhalten. Die Folge davon ist, weil die Neuware die immer gleichen Erwartungen zu bedienen hat, ein Verlust an Wertschätzung für den einzelnen Film. Entsprechend schnell schwindet auf breiter Front das Interesse an ihm.

Bleibt angesichts dieser Entwicklung noch Raum für Reflexion und Austausch, die doch maßgebliche Kriterien für eine Bewertung von einzelnen Filmen sein sollten? Und wer wird bei gleichbleibender Entwicklung in einigen Jahren noch sortieren und einordnen können, was es vor der nächsten Frischlieferung schon gab? Vermutlich ist der einzelne Film fürs kollektive Gedächtnis selbst schon von der Geschichte überholt worden. Vielleicht aber auch nicht – denn 2022 kommt die neue Bestenliste von „Sight and Sound“.