Das Stück „Spiegelneuronen“ von Sasha Waltz & Guests und„ Rimini Protokoll“ im Depot 1 des Schauspiels zeigte, wie man Publikum zum Mitmachen bringt und es dabei belehrt.
Tanzgastspiel im Depot 1Diesmal: Leute, die mit Armen wedeln
Musik wummert, ein Großteil des Publikums steht auf, reckt die Arme fröhlich hoch, hüpft oder hüpft fast, und sein Spiegelbild wird unscharf von den Vibrationen im Depot 1. Der schönste Moment des Gastspiels in der Reihe der Tanzgastspiele von Tanz Köln. Dieser riesige Spiegel steht da, wo sonst Bühne ist. Was sich in ihm abspielt, ist also das Bühnengeschehen. Es besteht daraus, was die paar hundert Leute in den Sitzreihen tun. So geht die Performance „Spiegelneuronen“.
Kein Wunder, dass sich im Laufe der achtzig Minuten in der Sonntagsvorstellung Zuschauer verzogen, vielleicht weil sie Tänzer und Tanz auf der Bühne erwartet hatten und nicht sich und Mitmenschen beim Armewedeln betrachten wollten, dazu einem Hörspiel aus montierten Wissenschaftlerstimmen lauschen. Interessant wäre es gewesen, wenn einem dieser Weg-hier-Impulse ganz Viele gefolgt wären: Aufstehen, Jacke zusammenraffen, Seitwärtsbewegung. Raus aus dem Spiegelblickfeld, um zu sehen, was die Performance dann ohne Performer macht.
Zusammenspiel zwischen Individuum und Gruppe
Doch die Anlage der Performance schützte vor rahmensprengenden Schwarmaktivitäten. Die Macherinnen hatten Vorkehrungen getroffen, die sie erst am Ende offenbarten. Die „Spiegelneuronen“ tarnten sich als Experiment ohne Ansagen oder Vorturner. Aus dem erst spärlichen, vereinzelten Armeheben, Wedeln, Schütteln, Schwenken, Hoch-Boxen, entstanden immer wieder inselweise oder weit entfernt oder in Masse Gleichzeitigkeiten. Aufploppen, Infizieren, Ausschwärmen, Abklingen waren zu beobachten. Es ging also um Regungen Einzelner und mehrerer und wie die zusammenhängen: Individuum und Gruppe, ein immergrünes Choreographie- und Lebensthema.
Während dieses oder jenes Winken sich verbreitete oder vorgeschlagen wurde ohne weitere Wirkung, waren fünf Fachleuten zu hören. Auf englisch und deutsch sprachen sie, aus Lautsprechern eingespielt, zu Themen, die gerade wortlos abliefen: Mitmachen, Synchronizität, Nicht-Mitmachen („wo kommt der Widerstand her?“), Individualität, Mikrobewegungen, unkontrollierte Regungen, Grenzensetzen, zu Kontrolle („ich bin ganz gegen Kontrolle“), zu Entscheidungsprozessen in Gruppen, Entscheidungen, die man fällt, bevor man es bemerkt. Zu Bewusstsein, Unterbewusstsein, Theater, Körper, Sinnen, Resonanz, Wohlfühlen, Zugehörigkeit, Normalität, „Disziplin, man kann auch moderner sagen: Übung“, zum Lernen von Babys („durch Kopieren, was nie hundertprozentig gelingt“). Den Statements, auch mal Fragen oder Meinungen, ist man ausgesetzt, denkt „nichts Neues, jaja“, nickt unsichtbar.
Den Missbrauch von Gruppenbewegungsgefühlen erwähnt nur ein Nebensatz. Vielleicht soll man sich hierzu selber was denken? Darf? Oder man denkt an die Clubs, mit DJs und Tanzlust, die gerade allerorten sterben.
„Spiegelneuronen“ treibt das Spiel mit dem Publikum auf die Spitze
Sich das Innere des Kopfes als Theater vorzustellen, ist ein alter Topos in der Wissenschaftsgeschichte. Längst wird das Hirngeschehen mit anderen Metaphern – früher Maschinen, heute Computer – anschaulich gemacht. Der Dreh zurück, „wir wollten in diesem Stück ja ein Gehirn mit unseren Körpern simulieren“, laut Stefan Kaegi im Programmheft, ist rührend. „Spiegelneuronen“ ist insgesamt gut gemeint, aber auch gut gemacht. Tobias Kochs elektronische Klänge durchspülten den Saal. Martin Hauks Lichtdesign belebte ihn mit Wechseln, teilte auch mal die Menschenmenge in zwei oder tauchte sie in Farbe oder Schatten, Schwarzlicht hob überall auftauchende Luftballons wie Neon-Blasen hervor, die die Zuschauer hüpfen ließen. Einmal fuhr eine Lichtlinie wie ein Scan die Publikumsreihen herauf und hinab. Wurde es kurz dunkel, begannen Leute zu klatschen. Tja, die Konventionen und Gewohnheiten.
Nach vielen Theater- und Tanzaufführungen, die schon Arena-Sitzpositionen boten mit Bühne zwischen Zuschauerblöcken, oder live gefilmtes und projiziertes Publikum oder Spiegel, treiben „Spiegelneuronen“ das Setting nun konsequent auf die Spitze. Das Ganze entstand aus einer Einladung von Sasha Waltz an Stefan Kaegi, einem Mitglied des Kollektivs „Rimini Protokoll“, das wie Waltz in Berlin beheimatet ist. Sasha Waltz wurde erst vor kurzem mit dem Deutschen Tanzpreis 2024 ausgezeichnet; sie hatte ihre Kompanie 1993 gegründet, machte sich weltweit einen Namen, gastierte schon ein paarmal in Köln. „Rimini Protokoll“ gehört zu den ersten Kollektiven, die von Studierenden der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen gebildet wurden und das theatrale Aufführen nicht als Schauspielen verstanden, sondern, zumindest anfangs, sogenannte Experten des Alltags auf die Bühne hoben. Diesmal: Leute, die mit Armen wedeln.
Die nächsten Tanzgastspiele: Im Depot 1 gastiert Gauthier Dance aus Stuttgart vom 6. Bis 8. Dezember mit dem Mehrteiler „Elements“n und Choreografien von Sharon Eyal, Andonis Foniadakis, Louise Lecavalier und Mauro Bigonzetti.