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Tattoo-Kunst im MuseumWer hat noch Angst vor tätowierten Menschen?

Lesezeit 4 Minuten
Tattoo-Künstlerin Myriam Black zeigt ihre tätowierten Unterarme.

Die Unterarme der Tattoo-Künstlerin Myriam Black

Myriam Black sticht Freiwilligen im Essener Museum Folkwang klassische Kunstmotive. Hat das alte Stigma der Tätowierung damit den letzten Reiz verloren?

Sich vor tätowierten Menschen zu fürchten, war unter braven Bürgern lange gang und gäbe und oftmals auch kein schlechter Rat. Doch diese Zeiten sind vorbei, brav will niemand mehr erscheinen. Auf der Haut zeigen sich die feinen Unterschiede heute eher in Flächenfraß und Motivwahl, etwa wenn eine ehrwürdige Kulturinstitution wie das Essener Museum Folkwang zur Tätowierstunde lädt. Im Rahmen einer „Live-Tattoo-Aktion“ stach Myriam Black, als „versierte Dürer-Tätowiererin“ eingeführt, dort jetzt vier Freiwilligen Holzschnitte des Expressionisten Erich Heckel; die Motive stammen aus der Folkwang-Sammlung, Turner-Prize-Träger Jeremy Deller wählte sie aus.

Myriam Black gehört zu einer Generation, für die das Tattoo ein selbstverständlicher Teil der Alltagskultur geworden ist. Fand man Tätowierstudios bis weit in die 1980er Jahren hinein nur in dunklen Ecken, hat sich in deutschen Großstädten eine bunte Tätowierszene etabliert, die sämtliche Gesellschaftsschichten bedient. Auch die Grenzen zur Kunstszene werden zunehmend fließend. Tätowierer, die wie Black auf klassische Motive der Kunstgeschichte zurückgreifen, um sie mit Tattoo-Stilen zu kombinieren, gehören beinahe schon zum Mainstream.

Einst stigmatisiert, wurde das Tattoo zur modischen Selbstdarstellung umgedeutet

Künstler wie Museumsleute belassen es heute nicht mehr dabei, darüber zu staunen, wie gründlich die einst mit der Tätowierung verknüpfte Stigmatisierung zur modischen Selbstdarstellung umgedeutet wurde. Immer noch sind Tattoos vor allem Treuezeichen und Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit, körperlicher Schmuck und verstecktes Erkennungsmerkmal – aber eben nicht mehr nur in gesellschaftlich geächteten Kreisen. Diese Entwicklung zeigt sich nicht zuletzt in Ausstellungen, die, wie etwa 2015 im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, die Geschichte der Tätowierung aufarbeiten. Was noch fehlt, ist die Aufnahme einzelner Tattoo-Künstler in den modernen Kunstkanon.

Die Pioniere der Körperkunst haben dies bereits geschafft; für sie war das mit dem Tattoo verbundene Stigma allerdings das zentrale Thema ihrer Arbeiten. Legendär ist das Strumpfhalter-Motiv, das sich Valie Export 1970 aus Protest gegen die Fetischisierung der Frau auf den linken Oberschenkel tätowieren ließ.

Valie Export ließ sich einen Strumpfhalter auf den Oberschenkel tätowieren

1974 präsentierte sich der damals 34-jährige Timm Ulrichs mit einer gestochenen Zielscheibe über dem Herz, um sich den Pfeilen des Schicksals und der Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft preiszugeben. Berühmt wurde er, als er sich 1981 die Worte „The End“ auf sein rechtes Augenlid tätowieren ließ – jedes Blinzeln war jetzt ein Vanitas-Motiv. 2005 erklärte er sich schließlich zur Marke und zu seiner eigenen Schöpfung. Seit diesem Jahr ziert der Schriftzug Copyright by Timm Ulrichs seinen linken Unterschenkel.

Diese Selbstinszenierung als Gezeichneter ist heutigen Tattoo-Künstlern eher fremd – mitunter hat das Tattoo aber weiterhin eine therapeutische Funktion. So sucht Natascha Stellmach in ihrem „Letting Go“-Projekt gemeinsam mit den Projektteilnehmern zunächst nach einem Wort, das für diese eine besondere Bedeutung hat. Anschließend sticht sie es ihnen ohne Tinte so unter die Haut, dass die Buchstaben aus dem Blut der Menschen gebildet werden – und nach Tagen oder Wochen von selbst wieder verschwinden. Anders als beim klassischen Tätowieren geht es Stellmach gerade um das Vergängliche, um das Verschwinden. Aber bevor etwas verschwinden oder heilen kann, muss es für sie erst einmal spürbar und sichtbar werden.

Trotz des Gewöhnungseffekts hat die Tätowierung ihr Potenzial zu provozieren, nicht vollends verloren. So ließ Wim Delvoye narkotisierte Schweine durch professionelle Tätowierer mit gängigen Tattoos verzieren, um die Tiere später, lebendig oder ausgestopft, im Museum auszustellen. Statt Tier- war hier eher Menschenquälerei am Werk, denn Delvoye, auch als Design-Porn-Künstler bekannt, machte sich über die paradoxe Sehnsucht lustig, die eigene Individualität mit modischen Tattoos zu feiern. Später griff Delvoye einen Witz aus einer Louis-de-Funés-Komödie auf, indem er den tätowierten Rücken eines Musikers an einen Kunstsammler verkaufte mitsamt dem Recht, das Werk zu verleihen, zu vererben und nach dem Tod der menschlichen „Leinwand“ zu konservieren.

Bei den wandelnden Kunstwerken Santiago Sierras kommt wiederum die Stigmatisierung des Tattoos zum Tragen – dieses Mal als beschämendes Armutszeichen. Sierra suchte und fand auf Kuba sechs arbeitslose Männer, die sich für 50 Dollar eine durchgehende Linie über ihre Rücken stechen ließen; in ihrer Verzweiflung waren sie danach vereint. Auch hier ging es nicht um die Provokation an sich. Sierra führte vielmehr vor, was es heißt, seine Haut buchstäblich zu Markt tragen zu müssen.

Das umstrittenste Tattoo-Kunstwerk schuf aber wohl Artur Zmijewski, der im Jahr 2004 den 92-jährigen Auschwitz-Überlebenden Josef Tarnawa überredete, sich seine verblasste KZ-Lagernummer auffrischen zu lassen. Zmijewskis Film „80064“ zeigt die Arbeit des Tätowierers in voller Länge und hat seine Hauptfigur als Mahnmal gegen das Vergessen mittlerweile überdauert.