Eine Sternstunde der improvisierten Musik: Vor 50 Jahren spielte Jazz-Pianist Keith Jarrett in der Kölner Oper sein epochales „Köln Concert“.
„The Köln Concert“Als Keith Jarrett in der Oper Musikgeschichte schrieb
Wer sich nicht mehr daran erinnern kann oder das Gebäude nur als Zankapfel um explodierende Kosten und nicht eingehaltene Zeitpläne kennt: Einst war das Kölner Opernhaus ein wirklich fantastischer Veranstaltungsort. Kühn gestaltet nach den Entwürfen von Wilhelm Riphahn, schwebten höhenversetzte Balkone zwischen Wänden aus edlem Holz, ragten wie Schiffe in der Brandung in den Saal und boten frontale Sicht auf die Bühne. Feierlich eröffnet am 18. Mai 1957, präsentierte sich das Opernhaus selbstbewusst als ein Bekenntnis zur Moderne.
Keith Jarretts epochales „The Köln Concert“ wurde zum meistverkauften Jazz-Soloalbum aller Zeiten
Zahlreiche Höhepunkte des zeitgenössischen Musiktheaters reihten sich in der Oper aneinander. Nicht nur Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ wurde hier uraufgeführt, auch der Jazz fand mitunter statt. Anfang der 1970er-Jahre brachte Gigi Campi das Duke Ellington Orchestra und die Clarke-Boland-Big-Band auf die Bühne, vollends ins Bewusstsein der Jazzgemeinde weltweit rückte das Opernhaus dann am 24. Januar 1975, als kurz vor Mitternacht ein 29-jähriger, amerikanischer Pianist die Bühne betrat. Wort- und grußlos setzte er sich an den Flügel, wartete lange, bis das kleinste Geräusch verstummt war, und entwickelte aus vier schnell hintereinander gespielten Tönen eine rhapsodische Melodie als Auftakt eines berauschenden, komplett frei improvisierten Solokonzerts: Keith Jarrett gab sein epochales „The Köln Concert“, das Musikgeschichte schrieb und zum meistverkauften Jazz-Soloalbum aller Zeiten wurde.
An jenem Abend vor 50 Jahren wurde die Bühne des Opernhauses zur Insel eines einsam Gestrandeten, der sich in Zeit und Raum zu verlieren schien und sich ganz und gar seinem musikalischen Bewusstseinsstrom hingab. Was man in gut 66 Minuten auf dem Album nacherleben kann, ist ein phänomenaler, sich ständig neu erfindender Prozess freien und freiheitlichen Gestaltens. Nur scheinbar gedankenverloren, in Wahrheit angetrieben von höchstkonzentrierter Energie, navigiert Jarrett durch zwischen Dur und Moll wechselnde Akkorde, variiert raffiniert Haupt- und Nebenthemen, formt energisch, mitunter sekundenschnell, immer komplexere Strukturen. Ebenso frei wie wagemutig überschreitet Jarrett die Grenzen musikalischer Genres und Stile. Cantabile, Klassik und Romantik, drängende, pulsierende, mitunter gehämmerte Ostinati, die in der nächsten Sekunde wie ein luftiges Soufflé zusammenfallen und Raum schaffen für lyrische, meditative Momente und anschlussfähige Melodien, die dermaßen eingängig und schön klingen, dass man kaum glauben mag, sie seien aus dem Moment heraus geboren.
Wer das Konzert miterlebte, erinnert sich bis heute tief beeindruckt an die Musik und den „exzentrischen“ Künstler, der mal mit seinen Füßen den Rhythmus stampfte, mal selbstvergessen seinen Körper verbog, zwischendurch aufsprang und seine Klangsuche mit ekstatischen Rufen eskortierte. Jochen Axer, Betreiber des Kölner Jazzclubs King Georg, war damals 20 Jahre alt und hatte sich schon durch viele Genres und Strömungen gehört. „Ich hatte das Glück, eine Studentenkarte zu bekommen. Die Oper war ausverkauft, die Zuhörenden waren gespannt, aufmerksam, ob der Performance mucksmäuschenstill, um am Ende ihrer Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Auch ich war begeistert, diese Art der vollkommen freien Improvisation hatte ich live so noch nie gehört. Das Konzert hatte mich gepackt, ich erzählte meinen Eltern davon, rief meinen früheren Musiklehrer an, ob er Keith Jarrett kenne. Was nicht der Fall war, wie im Übrigen mein gesamtes Umfeld nicht auf ihn oder den Jazz ausgerichtet war.“
Auch für Köln wurde das Konzert zum Momentum, die zukünftige Jazzstadt nahm ersten Schwung auf
Für viele war „The Köln Concert“ der Erstkontakt mit dem Jazz, für manche war das Konzert prägend: als Initiationszündung für womöglich nicht nur musikalisch Grenzüberschreitendes im eigenen Leben. Dabei war Keith Jarrett kein urplötzlich vom Himmel gefallener Messias, er befand sich vielmehr selbst mitten in einem Prozess des Umbruchs und der Neuorientierung. Während er Ende 1971 noch Orgel und E-Piano bei Miles Davis spielte, nahm er für Manfred Eichers Münchner Label ECM bereits sein erstes Soloalbum „Facing You“ auf. Zwei Jahre später folgten die „Solo Concerts Bremen/Lausanne“, danach spielte Jarrett ein letztes Album mit seinem amerikanischen Quartett ein, wobei man auf „Treasure Island“ schon einige Momente wahrzunehmen meint, die den Kölner Melodienreigen vorwegnehmen. Zugleich war Jarrett bereits mit seinem europäischen Quartett beschäftigt: Mit Jan Garbarek, Palle Danielsson und Jon Christensen entstand im April 1974 das Album „Belonging“, ein gigantischer Output an neuen musikalischen Ausdrucksformen – und mittendrin das „Köln Concert“!
Auch für Köln wurde das Konzert zum Momentum, die zukünftige Jazzstadt nahm ersten Schwung auf. Die junge Konzertveranstalterin Vera Brandes hatte 1974 für ihre Reihe „New Jazz in Cologne“ Bands wie Oregon, Pork Pie und Dave Liebmans Lookout Farm in die Stadt geholt, nun wurde Jarretts Solokonzert ihr Meisterstück – und zum Anlass für schillernde Legenden, die sich seitdem um den Fast-Abbruch des Konzerts rankten. Jarrett hatte sich geweigert, auf dem unzumutbar defekten Flügel zu spielen, ohne Vera Brandes‘ Einsatz wäre er unverrichteter Dinge abgereist. Was inzwischen sogar zum Sujet eines Spielfilms wurde: „Köln 75“ mit Mala Emde wird auf der diesjährigen Berlinale uraufgeführt.
Nach dem „Köln Concert“ setzte Vera Brandes weiterhin wichtige Akzente, auch als Protagonistin im „Kölner Jazz-Krieg“, der schließlich in die (halbwegs) befriedete Neuausrichtung des Jazz in der Stadt mündete. Fortan brach der auf seinem Weg zur Jazzstadt Köln moderne Jazz zu immer neuen Ufern, woran das „Köln Concert“ durchaus einen Anteil gehabt haben dürfte. Ob sich weiter darauf aufbauen lässt, wird die Zukunft zeigen. Ebenso, ob der Jazz irgendwann wieder ins Opernhaus zurückkehren wird. Aber das ist eine andere Geschichte.