Die Serie „Kaulitz & Kaulitz“ ist ein Streaming-Hit. Eigentlich passiert nichts. Aber man lernt viel.
Tokio-Hotel-Doku auf NetflixWie Bill und Tom Kaulitz durch den Monsun gekommen sind
Bill und Tom Kaulitz sind noch nie mit dem Zug gefahren. Aber jetzt müssen sie, es führt kein anderer Weg nach Bielefeld. Dort wird die Eins-Live-Krone vergeben, das ist kein Pflichttermin und der eher introvertierte Tom schlägt vor, einfach eine Videobotschaft zu schicken. Aber Bill ist Feuer und Flamme: „Bahnfahren! Ich stelle mir das so romantisch vor, wie der Orient-Express!“ Doch Romantik steht bei der Deutschen Bahn nicht auf dem Fahrplan. Der Zug fällt aus. Der nächste und der übernächste auch.
Dass sich die „bekanntesten Zwillinge der Welt“ (Selbsteinschätzung) ihren persönlichen Verblendungszusammenhang nicht von der Realität zerschlagen lassen, ist wahrscheinlich das Entzückendste, was man in „Kaulitz & Kaulitz“ über die Tokio-Hotel-Brüder erfährt – neben der Tatsache, dass sie sich gegenseitig „Maus“ nennen. Die Reality-Serie ist derzeit das beliebteste Programm auf Netflix. Jeder andere würde in das übliche Gejammer übers DB-Desaster verfallen – und dann halt schnell eine Videobotschaft einsprechen. Aber Bill und Tom chartern für 30 000 Euro einen Privatjet. „Bielefeld wird doch einen Flughafen haben, oder wie heißt die Stadt daneben: Koblenz?“, räsoniert Bill. Man landet dann in Paderborn.
Zurück in ihrer Wahlheimat Los Angeles befördern sie die Auszeichnung für „Beste Unterhaltung“ – eine Acryl-Kugel, die ein Metallkrönchen birgt – in ihren kleinen Lagerraum am Rande der Stadt, wo bereits die MTV Awards, Echos und Bravo Ottos Staub fangen.
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Die hatten sie vor allem am Anfang ihrer Karriere in Massen eingesammelt, als man von Tel Aviv bis Tiflis kein Radio einschalten konnte, ohne dass „Durch den Monsun“, die Debütsingle von Tokio Hotel, aus den Lautsprechern brauste. Als rasende Fanscharen den blutjungen Magdeburgern auf Schritt und Tritt folgten. Als ihre Kindheit damit endete, dass sie über Nacht zu Sexsymbolen erklärt wurden und zugleich, im Fall von Bill, ihre Sexualität verleugnen mussten. Wer wäre da nicht nach Los Angeles geflüchtet? Das ist nun beinahe 20 Jahre her, die Zeit verfliegt. Schon rattert das Rolltor herunter. Da gehen sie hin, die 30 000 Euro.
Als Format erinnert „Kaulitz & Kaulitz“ an ehesten an eine Schmalspurversion von „Keeping Up With the Kardashians“, allerdings mit sympathischeren Protagonisten. Die beklagen sich fortwährend darüber, wie verrückt und stressig und arbeitsreich ihr Leben sei.
Heidi Klum gibt sich bedeckt
Objektiv gesehen passiert in den gut sechs Stunden der Serie aber rein gar nichts. Die Feier zum 34. Geburtstag muss organisiert werden. Eine der größten Herausforderungen, heißt es in der Doku. Die darin besteht, dass die Assistentin der Unzertrennlichen – „Wir würden gar keinen Sinn machen ohneeinander“, sagt Bill – eine Party-Planerin anruft. Andere, über mehrere Folgen ausgewalzte Aktivitäten wirken eher wie Mini-Challenges, die sich das Team um Regisseur Michael Schmitt ausgedacht hat, um der großen Alltagsflaute nach dem Monsun offensiv zu begegnen.
Die Brüder scheitern an der Zubereitung von Waffeln (Tom: „Ach, Mehl und Backpulver, da gibt es einen Unterschied?“), konsultieren Wahrsagerinnen, Astrologinnen und Traumdeuterinnen, verzweifeln, als sie beim Glamping mal ein paar Stunden lang keinen Handyempfang haben. Bill muss den amerikanischen Führerschein nachmachen, Tom zwei junge Hunde trainieren, die seine Frau ihm geschenkt hat. Die heißt bekanntlich ebenfalls Kaulitz, in der Öffentlichkeit jedoch weiterhin Heidi Klum. Sie belässt es bei einigen lakonischen Kommentaren. Das gemeinsame Haus bleibt für die Kameras Tabu, es gibt noch nicht einmal Szenen, in denen sie mit ihrem Mann interagiert.
Bill Kaulitz öffnet den Kameras bereitwillig die Tür
Umso bereitwilliger öffnet Bill Kaulitz den Filmemachern die Tür zu seinem Anwesen in den Hollywood Hills, sein Inneres liegt sowieso für jeden Interessierten ungefiltert offen zutage. Mag sein, dass man die Serie streamt, wie man in ein Aquarium guckt, sich an dessen bunten Bewohnern erfreut, ohne über Sinn und Zweck ihres Handelns nachzudenken. Das Leben findet sowie irgendwo zwischen Schiffswracks, Schatztruhen und Haigebissen statt.
Tom Kaulitz hat eine Familie geheiratet, um sich von keiner Strömung fortreißen zu lassen. Er bleibt am liebsten zu Hause und liest Gebrauchsanweisungen von Dingen mit Motor. Und er ist seines Bruders Hüter.
Der treibt scheinbar absichtslos durch seinen Alltag, shoppt am Rodeo Drive, schwärmt mit seiner besten Freundin, dem alternden Partygirl Sara, von den immer falschen Männern und genießt die Aufmerksamkeit, die ihm wenigstens noch in Deutschland zuteilwird. Knutscht in pinker Lederhose seinen neuen Schwarm im Promizelt des Oktoberfestes vor den Kameras von RTL und „Bild“, obwohl es dem sichtbar peinlich ist. Wundert sich, warum es bloß so kompliziert ist, mit der Liebe: „Das Leben ist doch total einfach: Entweder ich mag jemanden oder nicht.“
Trotzdem ist Bill vielleicht sogar der Stärkere von beiden. Er hat es überlebt, das Kind zu sein, das anders ist. Das Kai Pflaume mit 13 Jahren „It's Raining Men“ bei „Star Search“ vorsingt, dem blinde Liebe und dumpfer Hass entgegenschlägt, egal wo es hingeht. „Das Beste ist, vorzuleben, wie man leben möchte“, rät Bill Kaulitz. Wer sagt denn, dass man bei Netflix nichts lernen kann?