Mit dem Debütroman „Blutbuch“ hat Kim de l'Horizon den Deutschen Buchpreis gewonnen, als erste nicht-binäre Person. Im Gespräch erklärt de l'Horizon, wie sein Buch als „Heil-Süppchen“ wirken soll. Und warum für diesen Heilungsprozess alte Wunden wieder geöffnet werden müssen.
Kim de l'Horizon„Wer anders ist, nimmt die Welt bewusster wahr“
Kim de l’Horizon, Ihr Roman „Blutbuch“ hat gerade den Deutschen Buchpreis gewonnen. Wie lange haben Sie an Ihrem Debüt gearbeitet?
Kim de l'Horizon: Ich habe vor elf Jahren angefangen, daran geschrieben habe ich zehn Jahre.
Eine lange Zeit. Wie viel hat der fertige Roman noch mit dem Buch zu tun, das Sie vor elf Jahren im Sinn hatten?
Am Anfang hatte ich mir eine Art Coming-of –Age-Geschichte vorgestellt, mit klassischer Plot-Struktur. Die Pläne, die ich gemacht habe, haben mich aber blockiert, die habe ich dann immer wieder abgebrochen. Irgendwann habe ich dann gemerkt, dass es darum geht, der Sprache zu vertrauen und an der Sprache zu arbeiten. Sprache ist magisch: Sie kreiert Welten. Die Dinge sind durch Sprache gebannt. Traumata liegen zwar oft unter Schweigen begraben, aber sie flimmern auch immer mit in allem, was gesagt wird. Ich wollte versuchen, genauer hinzuhören, um diesem Schweigen auf die Spur zu kommen. Das ging aber nicht mit so einem statischen Plot-Schreiben, das Schreiben musste flüssig werden. So hat sich das entwickelt.
War es dann die Entscheidung für das, was man heute Autofiktion nennt – die erzählende Figur ist eindeutig als der Autor erkennbar – die den Sprachfluss ausgelöst hat?
Es war eigentlich keine Entscheidung. Die Themen haben einen Eigenwillen. Diese Familien-Traumata wollten einfach raus und sie wollten ihre eigene Form. Es ging für mich dann mehr darum, im Schreiben die Kontrolle loszulassen.
Hatten Sie zwischendurch auch Zweifel, wie weit Sie das Autobiografische zulassen können? Denken Sie zum Beispiel an die privaten Verwerfungen, die Karl-Ove Karl Ove Knausgård mit seinen autofiktionalen Büchern ausgelöst hat.
Ja, Zweifel gab es schon. Aber ich hatte auch immer das Vertrauen, dass nicht von einem Ort der Abrechnung aus geschrieben wird, sondern von einem des Verstehen Wollens. Knausgård nehme ich als sehr rücksichtslos wahr. Sprache kann Wunden schlagen, aber sie kann sie auch heilen. Und mein Buch strebt eine kollektive Heilung an.
Welche Reaktionen auf das Buch haben Sie am meisten überrascht?
Am meisten haben mich diese Positivität und diese Berührtheit von ganz unterschiedlichen Leuten überrascht. Die habe ich mir natürlich erhofft, aber ehrlich gesagt hatte ich befürchtet, dass es noch zu früh dafür sein könnte. Jetzt zeigt sich aber, dass das Buch zum genau zum richtigen Zeitpunkt kam.
Der Roman fängt mit einer Aufzählung von Dingen an, über die in Ihrer Familie nicht gesprochen wird. Letztlich kreist der ganze Text um diese schwer sagbaren Dinge.
Genau.
Ein wichtiger Grund für das autobiografische Projekt ist die Demenzerkrankung der Großmutter. Ist das Schreiben für Sie eine Art Rettungsversuch?
Rettung, das klingt mir zu christlich. Es geht mir auch nicht um die Vorstellung, dass etwas ganzheitlich wiedergutgemacht werden kann. Mir geht es um Heilung und das bedeutet eben nicht, die Wunden wegzumachen, sondern vernarben zu lassen und dann zu diesen Narben zu stehen. Es gibt ja auch Wunden, die schlecht verheilt sind und die mensch erstmal wieder öffnen muss, damit die besser verheilen können. Ich wollte einen textlichen Raum öffnen, in dem mensch diese Wunden öffnen und den Schmerz zulassen kann.
Sie beschreiben nicht nur Ihr eigenes Leben und das Ihrer Mutter und Großmutter, Sie verfolgen die gesamte matriarchale Linie Ihrer Familie…
…. genau, wir haben ja schon über das Schweigen geredet, dabei geht es auch um Lücken und Leerstellen. Die Biografien von nicht-männlichen Körpern wurden oft nicht überliefert. Die geistern vielleicht in der Familienerzählung herum, aber in offiziellen Archiven kommen die nicht vor. Ich verstehe meine Literatur als eine Art Korrektur, oder auch hier eine Art Heilung der Wissenschaft der Geschichte.
Die von der Geschichte vergessenen Frauen, von denen Sie schreiben, wurden häufig als Hexen bezeichnet.
Und diese Hexen, das waren ja oft einfach ältere Frauen, die in ihren Dörfern als eine Mischung aus Apothekerinnen, Psychologinnen und Hebammen arbeiteten. Die besaßen sehr viel Wissen auf einer nicht institutionalisierten Ebene. Im Laufe des Rationalismus wurde dieses Wissen den Frauen weggenommen, an den Universitäten zentralisiert und an die Männer gebunden. Ich meine das überhaupt nicht kritisch gegenüber den Universitäten, aber es muss auch Wissensorte außerhalb der Akademie geben. Ich verstehe meine Poesie als magischer Ort eines anderen Wissens. Mir geht es nicht um eine Wissenschaftskritik etwa im Sinn von Corona-Leugnern. Ich versuche schon, objektiv zu sein. Aber eben nicht auf die akademische Art und Weise, in der mensch den eigenen Standpunkt ausradiert. Mir geht es um ein im Körper situiertes Wissen.
Die männliche codierte Wissenschaft gibt den Dingen Namen, klassifiziert sie. In Ihrem Buch geht es dagegen um die Befreiung von solchen Zuschreibungen. Insofern funktioniert es wie eine Art sprachmagisches Ritual, kann man das so sagen?
Ja, das ist ganz wichtiger Punkt. Also da gibt es beispielsweise am Ende des dritten Teils so einen Gegenzauber, wo sich die Figur von Karriere, Körper und Dämonen loseisen will und sich mit der Nacht vereinigt. Die Metaphorik von Nacht und Licht, von Gut und Böse ist eine sehr kolonialistische. Diese christliche Vorstellung vom Teufel als der Nacht und den Engeln und Gott als dem Licht wurde sehr stark von rassistischen Ideologien vereinnahmt. Hexen gehören zur Nacht und sind damit etwas Böses. Das Buch ist aber eher ein Dämmerungsbuch als Tages- oder Nachtbuch. Es geht um diese Zwischenräume und deren magisches Potential. In der Dämmerung ist das Licht nicht so hart und wirft keine klaren Schatten. Ich wollte kein neues Dogma entwerfen, keine Figuren, die gut oder böse oder hell oder dunkel sind. Wir sind Dämmerwesen, schlammige Zwischenwesen, die alle diese Anteile in sich vereinen. Mein Buch ist ein Hexenkessel, in den alle Zutaten rein kommen und zu einem Heil-Süppchen gekocht werden. Da gibt es keine Hierarchie der einzelnen Teile über die anderen, keine lineare Erzählung, keine Heldengeschichte.
Der klassische Coming-of-Age-Roman beschäftigt sich nicht mit dem Verständnis des Helden für die vorangegangenen Generationen. Bei Ihnen lernt der Protagonist aber genauso viel über seine Familie und seine Umwelt wie über sich selbst.
Ja, genau, der klassische Held ist in dieser Ich-Werdung gefangen. Mir ging es zwar schon darum, sich so einen Textkörper zu erschreiben, aber eben auch darum, in Verbindung zu kommen. Zu den Müttern, aber zum Beispiel auch zu den Pflanzen, zur Blutbuche, zu Orchideen. Wenn wir eine Zukunft auf diesem Planeten wollen, dann müssen wir wieder in ein Miteinander kommen. Sowohl mit den anderen Menschen, als auch mit den anderen Arten. Am Beispiel der Blutbuche zu verstehen, wie untrennbar Natur und Kultur miteinander vermischt sind, ist ein erster Schritt, diese anderen Arten zu verstehen.
Das ist ein wichtiges Motiv im Buch, dass die Grenzen zwischen den Geschlechtern zerfließen und auch die zwischen Körpern, oder zwischen Mensch und Natur. Entspricht die fluide Form des Buches dem nicht-binären Geschlecht des Protagonisten?
Ja, aber mir ging es um vielmehr. Darum, dass alle Lebewesen an Land das Meer in sich tragen müssen, das vorher um sie herum war. Geschlecht ist nur ein Aspekt davon, wie flüssig alles in uns ist und eben nicht starr.
Eine Erkenntnis, für die Sie die eigene Existenz als Trans-Person empfänglicher gemacht hat? Als weißer heterosexueller Mann fehlt einem ja der Impuls, eine Welt zu hinterfragen, die exakt auf einen zugeschnitten ist.
Das stimmt, Privileg macht blind und gibt einem das Gefühl, objektiv zu sein. Da geht es gar nicht um irgendeine Schuld, so ist es eben. In der Literaturgeschichte kommen die spannenden Sachen deshalb oft von den Rändern her. Wenn mensch anders ist, nimmt mensch die Welt bewusster wahr, fragt sich: Wieso ist alles eigentlich so, wie es ist? Und wenn wir einmal diesen riesigen Spalt im Sosein der Welt gespürt haben, dann ist das, als hätten wir ein Loch ins Eis geschlagen, und wir kommen in diese fein verästelten Brüche hinein. Aber ich glaube, das hat nichts mit Identität zu tun, oder damit, dass weiße, hetero Cis-Männer weniger sensibel wären, sondern eben mit den Erfahrungen des Andersseins.
Sie sind die erste Trans-Person, die den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, gerade stand mit Ihrer Vornamensvetterin Kim Petras die erste Trans-Frau an der Spitze der US-Charts. Öffnet sich da gerade ein Spalt? Und warum gerade jetzt?
Ich glaube, das Internet hilft, dass wir einander Community sein können, auch über weite Distanzen hinweg. Aber historisch betrachtet gab es immer schon mehr als nur die binären Geschlechter, in allen Kulturen. Es war leider wieder der Westen, der das in vielen Kulturen kaputt gemacht hat. Diese mehr als binären Geschlechter haben oft heilerische oder spirituelle Funktionen. Aber nicht, weil das essentiell im Kern unserer Identität steht. Das ist wieder dieses vorhin angesprochene Loch im Eis, das uns sensibler macht und durchlässiger. Wir sind nur ein Körper unter vielen Körpern, wir sind untrennbar mit allen anderen Arten verschlungen, sind durchdrungen von Bakterien und Pilzen. Wir brauchen alle anderen Spezies, es geht nur miteinander.
Kim de l'Horizons Roman „Blutbuch“ ist bei DuMont erschienen. 336 Seiten, 24 Euro