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TV-Kritik zur WahlnachtUnd am Bildschirm wird es röter und röter

Lesezeit 4 Minuten

ZDF-Mann Christian Sievers vor der entsprechend gefärbten Karte der USA.

Köln – Um zwei Uhr in der Nacht ist die Welt noch in Ordnung: die Welt, wie sie sich auf dem Touchscreen mit der Karte der amerikanischen Bundesstaaten in der ARD-Dauersendung zur US-Wahl präsentiert. Dabei ist der Begriff „in Ordnung“ streng genommen falsch: Die Karte ist in einem hässlichen Gelbbraun-Ton gehalten, der besagt, dass aus den entsprechenden Regionen Ergebnisse noch nicht vorliegen.

Nur auf der rechten Seite, im Landesinnern unterhalb der Großen Seen, prangt ein dicker roter Fleck – ist es Kentucky oder West Virginia? –, der anzeigt, dass dort ein Staat bereits definitiv an Donald Trump gefallen ist. Irgendwo an der Ostküste schimmert es auch schon dunkelblau – hier hat Joe Biden das Rennen gemacht. Das alles sei – so versichert Jörg Schönenborn, an diesem Abend im Hamburger ARD-Studio der Mann der aktuellen Zahlen – erwartet worden, es seien halt klassische Hochburgen der gegnerischen Parteien. Andere Ergebnisse wären Riesenüberraschungen.

Zuschauer hofft auf blau

„Pflicht, nicht Kür“, formuliert Schönenborn – und wird dies in der quälend langen Wahlnacht angesichts der allmählich eintrudelnden Resultate der Stimmenauszählungen noch oft tun. Die Hoffnung des Wächters am heimischen Bildschirm allerdings, dass der Ocker-Grundton der Karte nach und nach ins Blaue mutieren möge, ist zunächst freudig, dann in fließendem Übergang bangend und schließlich beklemmt-frustriert – die andere Farbe kommt einfach zu stark ins Spiel.

Klar, dass Biden in der Mitte und im Süden nicht viel zu melden hat: So nimmt man es noch eher gleichmütig hin, dass sich Tennessee, Kentucky, Alabama und Arkansas, auch die beiden Dakotas röten – genauso, wie sich im Nordosten zusehends das Blau durchsetzt. Dann aber – es ist inzwischen vier Uhr morgens und später – kommen für den deutschen Biden-Sympathisanten zwei Horrormeldungen: Trump liegt in Florida und Ohio vorn. Das sind klassische Swing States, Schlüsselstaaten, die ein Kandidat tendenziell gewinnen muss, will er die Option auf den Wahlgewinn ernsthaft behaupten.

Pokerfaces bei den Sendern

Die Redakteure und die Korrespondenten von ARD und ZDF wahren angesichts dieser Entwicklung die berufsgebotene Contenance, Pokerface ist angesagt: Das fassungslose, weil durch die Prognosen nicht vorbereitete Entsetzen wird allenfalls in Spurenelementen erkennbar. Schönenborn hat mit Texas auf dem Screen Probleme – der Staat poppt immer wieder auf, obwohl der WDR-Fernsehdirektor ganz andere Ecken der Karte anklickt. Das hat aber nichts zu sagen (Texas, auf das sich die Demokraten Hoffnung gemacht hatten, fällt gegen sieben Uhr an Trump), schuld ist Schönenborns Jackenärmel.

Jenseits solcher burlesker Missgeschicke machen die Profis von ARD und ZDF – der nächtliche Zuschauer switcht zwischen den beiden Sendern hin und her – ihre Sache gut, ja sogar ziemlich souverän: Andreas Cichowitz und Schönenborn in der ARD, Bettina Schausten und Christian Sievers im ZDF müssen schließlich stets mit vielen Bällen jonglieren, zwischen der Bekanntgabe aktueller Ergebnisse, Live-Schaltungen zu den Korrespondenten in den diversen Regionen der USA und Interviews mit Politikern und Fachleuten im jeweiligen Heimatstudio flexibel hin- und herschalten. So oder so merkt man mal wieder, was man an den Öffentlich-Rechtlichen mit ihrer professionellen Manpower gerade in Ausnahmesituationen hat.

Peinliche Gesprächspartner

Nichts können die Moderatoren für eher peinliche Gesprächspartner, zu denen man getrost den notorischen Overseas Republican George Weinberg zählen darf. Dieser fanatische und für Gegenargumente völlig unempfängliche Trump-Anhänger meint zum Beispiel schon vor der Wahlnacht, die CDU/CSU als „christliche“ Parteien für die US-Republikaner in Anspruch nehmen zu können. Wo doch – in deren derzeitigem Zustand – im deutschen Parteiensystem ausschließlich die AfD als „Weltanschauungspartner“ in Betracht kommt. Sagt ihm das vielleicht mal jemand ganz unmissverständlich?

Mittlerweile – es geht auf sieben Uhr, vor der Haustür wird es hell – leuchtet Schönenborns Screen intensiv rot. Der Eindruck täuscht, viele republikanische Staaten sind große, aber einwohnerarme Flächenstaaten. Trotzdem: Etliche Swing States, in denen ein Wechsel vorausgesagt wurde, patzen aus Sicht des Biden-Lagers. Am frühen Morgen ein erster Lichtblick für die Blauen: Arizona wird wohl – später bestätigt sich das – an den Herausforderer gehen und damit, gegenüber 2016, die Farbe wechseln. Aus den Studios wird gleich in den Wüstenstaat zur Demokratenparty geschaltet – wo die Stimmung indes depressiv ist. Eine Schwalbe macht halt keinen Sommer.

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Dass später am Tag dank zumal der ausgezählten Briefwahlstimmen doch noch eine blaue Welle vor allem aus Michigan und Wisconsin anrollen wird, ist zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar. Wie auch immer: Ein Thema, das in der Wahlnacht zu kurz kommt, harrt dringend der Aufarbeitung: Wie konnte die Demoskopie nach 2016 erneut derart danebenliegen?