LiteraturDiese Autorin hat schon 2019 einen Roman über den Lockdown geschrieben
- Die US-Autorin Sarah Pinsker schildert in „A song for a new day“ eine Welt, in der nach einer Pandemie öffentliche Versammlungen verboten bleiben.
- Der Roman erschien 2019. Jetzt sollte man ihn lesen, weil er exakt schildert, wie es sich anfühlt, in Dauerquarantäne zu leben.
- Weitere Bücher, die helfen, sich unter Pandemie-Bedingungen zurechtzufinden, finden sie hier.
Köln – „Straßenfeste, Vergnügungsparks, Kinos, mit Fremden in einem Wartezimmer sprechen“: Luce und ihre WG-Mitbewohner haben ein Whiteboard an die Küchenwand gehängt, auf das sie unter dem Titel „Vergiss die Normalität nicht“ all die Dinge notieren, die sie vermissen. Bald reicht die Tafel nicht mehr aus. Die Liste verbreitet sich über die ganze Wand: „Baseball-Spiele, volle Züge, Lebensmittelläden vor einem Schneesturm.“ Doch Luce Cannon, die Singer-Songwriterin mit dem sprechenden Namen, vermisst am meisten die Konzerte, die Freude, inmitten einer Menge zu treiben, „die gute Ansteckung“.
In ihrem Debütroman „A song for a new day“ (dt. „Ein Lied für einen neuen Tag“) schildert Sarah Pinsker eine Welt im permanenten Lockdown. Nach einer Reihe von Terroranschlägen und einer tödlichen Pandemie hat die amerikanische Regierung öffentliche Versammlungen rigoros verboten.
Vergangenen Mai hat Pinsker für ihren Roman den „Nebula Award“ gewonnen. Der gilt neben dem „Hugo Award“ als international prestigeträchtigster Preis für Science-Fiction-Literatur. Tatsächlich aber erscheint „A song for a new day“ heute kaum noch als Zukunftsgeschichte. Der Alltag hat in Rekordgeschwindigkeit gegenüber Pinskers Vision aufgeholt.
Buchtipps
Sarah Pinsker: „A song for a new day“, Berkeley, 384 Seiten, ca. 15 Euro
Octavia E. Butler: „Die Parabel vom Sämann“, Heyne, nur gebraucht
Emily St. John Mandel: „Das Licht der letzten Tage“, Piper, 410 Seiten, 16 Euro
Ling Ma: „Severance“, Picador, 304 Seiten, ca. 16 Euro
Die Autorin konnte das unmöglich ahnen, sie hat ihren Roman bereits im September 2019 veröffentlicht. Das ist an sich schon erstaunlich, und man kann nur hoffen, dass jemand das Buch schnellstmöglich ins Deutsche übertragen wird, zumal es eine absolut lohnenswerte Lektüre ist.
Im Nachhinein werden Science-Fiction-Romane gerne daraufhin abgeklopft, wie exakt sie zukünftige Entwicklungen und Entdeckungen vorausgesagt haben: das elektrische U-Boot in Jules Vernes „20 000 Meilen unter dem Meer“, die zwei Monde des Mars in Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“, das Internet in William Gibsons „Neuromancer“.
Im März, als das Virus gerade seinen Weg um die Welt machte, erschienen allerhand aufgeregte Artikel über einen Roman, den der kalifornische Vielschreiber Dean Koontz im Jahr 1981 unter Pseudonym veröffentlicht hatte: In einem der letzten Kapitel von „Die Augen der Dunkelheit“ wird ein chinesischer Wissenschaftler erwähnt, der mit hochbrisanten Daten zu einer biologischen Waffe zu den Amerikanern überläuft: „Sie nennen das Zeug Wuhan-400, weil es in ihren RDNA-Labors außerhalb der Stadt Wuhan entwickelt wurde, und die vierhundertste Stammkultur eines künstlichen, existenzfähigen Mikroorganismus, die in diesem Forschungszentrum geschaffen wurde.“
Bis auf den suggestiven Namen hat Koontz’ fiktives Virus jedoch nicht das Geringste mit demjenigen zu tun, das unser Leben binnen weniger Monate in eine dystopische Zukunft katapultiert hat. Wie sollte es auch? Bestsellerautoren können schließlich nicht hellsehen und Science-Fiction-Storys sind keine Prophezeiungen, sondern Spekulationen.
Bestenfalls kann das Genre auf indirektem Weg inspirieren: Waren nicht etliche bedeutende Wissenschaftler in ihrer Jugend Science-Fiction-Fans? Es kann auch helfen, den Abgrund zwischen den exakten und den Geisteswissenschaften zu überbrücken; vor den Konsequenzen aktueller Entwicklungen warnen; historische Konflikte und soziale Missstände auf andere Planeten oder in die mehr oder weniger ferne Zukunft versetzen, wo sie dann umso deutlicher aufscheinen.
Octavia E. Butler, zu Anfang ihrer Karriere wahrscheinlich die einzige bekannte schwarze Science-Fiction-Autorin, hat mit ihrem Roman „Die Parabel vom Sämann“ bereits in den 1990ern eine Welt geschildert, in der kein singuläres Ereignis, sondern ein Zusammenspiel von Klimawandel, Wirtschaftskrise und gesellschaftlicher Atomisierung die USA in Armut und Gewalt kippen lässt. Die Polizei ist privatisiert, für die meisten gilt das Recht des Stärkeren.
Der Roman liest sich teilweise wie eine Anleitung für das Überleben in Zeiten des Zusammenbruchs. In der Fortsetzung „The Parable of the Talents“ aus dem Jahr 1998 begegnet uns dann ein texanischer Senator, der sich von Rassisten und Fundamentalchristen zum US-Präsidenten wählen lässt. Sein Slogan: „Make America great again.“ Manchmal funktioniert das eben doch mit den prophetischen Gaben der Kunst.
Shakespeare gegen Essen
Auch Emily St. John Mandels „Das Licht der letzten Tage“ aus dem Jahr 2015 schärft den Blick für das, was wir zu verlieren haben: Der Roman erzählt von einer Pandemie, der fast die gesamte Menschheit zum Opfer gefallen ist. Eine kleine Gruppe schlägt sich durch die kanadische Wildnis und spielt anderen Davongekommenen gegen Nahrung Shakespeare-Stücke vor, denn das bloße Überleben reicht nicht hin.
In Ling Mas „Severance“ läutet eine Seuche aus der chinesischen Mikroelektronik-Metropole Shenzhen das Ende der globalen Zivilisation ein. Hier hat die Dystopie allerdings bereits lange vor dem Virus begonnen, nämlich im schlafwandlerischen Büroleben der Millennials. Heilsversprechen enden hier in einer verlassenen Shopping Mall: Die eigentliche Katastrophe ist die Banalität des modernen (Arbeits-)lebens.
Kritik an Amazon
Sarah Pinsker besticht in „A song for a new day“ ebenfalls nicht durch postapokalyptische Action. Die widerständige Musikerin Luce verlegt sich auf illegale Konzerte im Untergrund. Hier wird sie von der anderen Protagonistin des Romans aufgespürt. Rosemary ist nach der Pandemie aufgewachsen. Sie kennt von der Welt kaum mehr als ihr eigenes Zimmer, von dem aus sie im Homeoffice für das alles beherrschende Logistikunternehmen „Superwally“ arbeitet – gemeint ist selbstverständlich Amazon.
Bis sie ein Angebot von „StageHolo“ erreicht, der Firma, die die einzig noch legalen, nämlich virtuellen Konzerte veranstaltet: Sie soll Bands aus dem Untergrund rekrutieren. Für Rosemary ein großes Abenteuer: Die erste Übernachtung im Hotel, das erste Café ohne abgetrennte Sitzbereiche, das erste Konzert mit Körperkontakt.
Und damit beschreibt Pinsker doch ziemlich exakt die Zukunft, in der wir gerade leben: eine Apokalypse der Öde und des Berührungsverbots.