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Kinder im Quarantäne-Hausarrest„Der Siebenjährige kommt sich vor wie ein Krimineller“

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Auf jeden Fall unerkannt bleiben.

Köln – An Tag acht zieht Silke Römer ihrem sieben Jahre alten Sohn die Kapuze seines Hoodies bis tief über die Augen, fährt den Wagen direkt an die Haustür und treibt den Siebenjährigen an, schnell und unauffällig auf den Rücksitz zu klettern. Sie blickt noch einmal nervös in den Rückspiegel. Sieht dort das blasse Gesicht ihres Jüngsten im Fond. Dann gibt sie Gas, braust los. Raus aus der Stadt. Auf der Suche nach Luft.

Silke Römer heißt eigentlich anders. Ihr richtiger Namen soll nicht öffentlich werden. Denn was sie da unternommen hat, war kein harmloser Ausflug. Es war eine Straftat. Ihr Sohn besucht die zweite Klasse einer Düsseldorfer Grundschule und steht gemeinsam mit all seinen Klassenkameraden unter Quarantäne. Seine Lehrerin wurde positiv auf Covid-19 getestet. „Sogar der Siebenjährige kommt sich vor wie ein Krimineller. Und das nur, weil er gern mal spazieren gehen möchte“, sagt Römer. Und wirklich: Der Trip in den Wald könnte die Familie teuer zu stehen kommen. Laut Infektionsschutzgesetz haben sie die Quarantäne-Anordnung verletzt. Darauf stehen zwei Jahren Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe von bis zu 25.000 Euro.

Zwei Wochen ohne Luft in teils kleinen Wohnungen

Behördlich angeordneter Hausarrest für Kinder, das kann gerade alle Eltern treffen. Bis Ende September waren nach Angaben der Länder etwa 50.000 Kinder in Deutschland in Quarantäne. In Bayern, wo 9000 Mädchen und Jungen als Kontaktperson eins 14 Tage das Haus nicht verlassen durften, wurden am Ende 3,8 Prozent der Kinder positiv auf Covid-19 getestet. Hochgerechnet auf ganz Deutschland bedeutet diese Rate: Mehr als 48.000 Kinder waren gesund und durften dennoch zwei Wochen lang ihre zum Teil kleinen Wohnungen nicht verlassen, sie durften nicht zur Schule, nicht zum Spielplatz, nicht in den Park, nicht in den Wald. Es war ihnen 14 Tage lang verboten, abgesehen von Geschwistern andere Kinder zu treffen.

In einigen Bundesländern – wie zum Beispiel Hessen – fehlten zudem zu Beginn auf Kinder zugeschnittene Quarantänevorschriften. Es gab Gesundheitsämter, die strikt verlangten: Kinder müssten auch in der häuslichen Gemeinschaft von Eltern und Geschwistern separiert werden. „Wir kennen einen Fall aus Frankfurt aus dem September 2020, da wurden Eltern telefonisch vom Gesundheitsamt dazu aufgefordert, den Kontakt zum Kind zu minimieren, es möglichst allein im Zimmer zu lassen und dem Kind das Essen vor die Tür zu stellen.“ In der Quarantäneanordnung stand, bei Zuwiderhandlung würde die Absonderung zwangsweise durch Unterbringung in einer geeigneten abgeschlossenen Einrichtung erfolgen. Das Kind war sieben“, sagt Nora von Obstfelder, Unternehmensberaterin, Mutter dreier Kinder und seit Beginn der Pandemie engagiert bei „Familien in der Krise“. Die Lobbygruppe für Kinder und Familien hat mittlerweile 300 aktive Mitglieder aus dem ganzen Bundesgebiet und etwa 7000 Unterstützer in den Sozialen Netzwerken.

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Mittlerweile weichen einige kommunale Gesundheitsämter auch nach Protest von „Familien in der Krise“ von diesem harten Wortlaut ab, haben ergänzende Hinweise für die Quarantäne mit kleinen Kindern aufgenommen. Auch Silke Römer erreicht ein Schreiben von der Stadt, in dem steht, dass „so wenig Kontakt wie möglich auch im familiären Kreis erfolgen soll“. Allerdings immerhin mit dem Zusatz, dass man sich bewusst sei, dass dies je nach Alter des Kindes „schwer bis gar nicht umsetzbar ist“.

Gesundheitsämter stellen oft ganze Klassen unter Quarantäne

In einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Spahn und RKI-Präsident Lothar Wieler forderte die Lobbygruppe „Familien in der Krise“ unlängst einen Kurswechsel. „Obwohl Kinder am stärksten unter der Quarantäne leiden, begegnet man ihnen mit den strengsten Regeln“, sagt Franziska Reiß, Anwältin, dreifache Mutter und ebenfalls engagiert bei „Familien in der Krise“. Während im Büro sehr genau geguckt werde, wer Kontakt zu einem Infizierten hatte, stelle das Gesundheitsamt bei einem Corona-Fall in Schulen oft ganze Klassen unter Quarantäne – aus Personalmangel. Bei Erwachsenen wird da schon genauer differenziert. In wirtschaftsstarken Berufsgruppen scheinen die Behörden besonders großzügig bei der Auslegung. Als Serge Gnabry, Profifußballer beim FC Bayern München, positiv getestet wurde, schickte man ihn in die Isolation. Der Rest des Teams wurde negativ getestet und durfte tags drauf in der Champions League gegen Atlético Madrid antreten. „Dabei atmen und schwitzen die auf dem Platz und sind hiernach alle zusammen in der Kabine“, kritisiert Reiß.

Der negative Test ist auch für Reiserückkehrer eine bewährte Exit-Strategie aus der Abschottung. Kinder dagegen werden nicht getestet. Und wenn doch, müssen sie auch bei einem negativen Ergebnis in Quarantäne bleiben. „Das ist ein massiver Eingriff in die persönliche Freiheit. Für mich ist das ein Skandal“, sagt Reiß. Gerade kleine Kinder könnten den Zeitraum gar nicht überblicken und lebten ständig mit dem diffusen Gefühl: „Ich bin gefährlich. Ich habe etwas falsch gemacht.“

Plötzlich kam der Corona-Anruf der Direktorin

Es ist Sonntagnachmittag Ende September, als Römer und ihr Mann mit den beiden sieben und zwölf Jahre alten Söhnen in der nahe gelegenen Grundschule des Jüngsten wählen gehen. Stichwahl Oberbürgermeisteramt. „Das war das letzte Mal, dass Tom in seiner Schule war“, sagt Römer. Danach – die Jungs haben sie schon zu Hause abgeliefert – gönnen sich die Eltern noch einen Kaffee an einem Kiosk. Das Handy. Die Direktorin. Corona-Fall in der Klasse. Quarantäne ab sofort. Zwei Wochen.

„Ich war völlig aufgewühlt, fühlte mich ohnmächtig“, sagt Römer, als sie die Geschichte ein paar Wochen später erzählt. „Der Lockdown im Frühjahr war für unsere Familie traumatisch. Wir und die Kinder den ganzen Tag in der kleinen Wohnung. Es kam mir vor wie eine schreckliche Wiederholung.“ Was sie über Wasser hält? Einzig das Wissen, dass diesmal nicht alle vier ununterbrochen zu Hause sein werden, sondern immerhin nur der Jüngste. Zumindest so lange der keine Symptome entwickelt. „Lenny durfte, ja musste sogar, weiter die Schule besuchen. Mein Mann ging ins Büro. Ich konnte immer raus, wenn einer von beiden nach Hause kam.“ Silke Römer spricht von Flucht.

Wer sagt es ihm? Der Vater übernimmt. Tom reagiert zunächst gefasst. Macht sich Sorgen um seine Lehrerin. „Du darfst nicht mehr raus. Wegen dir könnten Menschen sterben“, sagt der zwölfjährige Bruder Lenny.

Tom weint viel und ist immer schlechter gelaunt

„Ich kann nicht mehr. Ich habe den Tom rund um die Uhr neben mir stehen. Atmen. Schnaufen. Ich werde verrückt. Er ja auch. Ich kann nur so oft wie möglich selbst rausgehen. Immerhin habe ich durch den Scheiß wieder mit dem Laufen angefangen“, schreibt Silke Römer nach sechs Tagen Quarantäne via Whatsapp. Tom hat ein Puzzle bekommen. Er weint viel. Ist dünnhäutig. Von Tag zu Tag schlechter gelaunt. Tablet- und Fernsehzeit werden verdoppelt. Netflix zeigt: Ninjago und Spotlight. Aber auch darauf hat der Siebenjährige bald keine Lust mehr. Gegen Ende der ersten Woche knüpft Tom ein Freundschaftsarmband für sich selbst.

Wenn Silke Römer mit dem Hund rausgeht, guckt Tom sie sehr groß an und sagt: Ich darf ja nicht mit. Immerhin: Um halb elf und um halb zwei durchbricht eine regelmäßige Pflicht die Langeweile. Zoom-Konferenz mit der ganzen Quarantäne-Klasse. „Das war tatsächlich besser geregelt als im Frühjahr. Es gab Arbeitsblätter zum Ausdrucken und Lernvideos zum Gucken.“ Dazwischen soll Tom seine Aufgaben machen: Rechnen, Lesen, Informationen zu seinem liebsten Zootier recherchieren. Ein Gehege dafür bauen. „Tom hat nur das gemacht, worauf er Lust hatte. Kunst. Ein bisschen Lesen. Beim Rest wurde er von Tag zu Tag bockiger“, sagt Römer.

Homeoffice und gleichzeitig trösten, basteln, rechnen

Und auch der Mutter fehlt manchmal der Drive. Sie arbeitet bei einer Agentur. Homeoffice geht zum Glück. Aber Tom steht alle drei Minuten neben ihr. Hält ihr ein Blatt hin. Was muss ich machen, Mama? Silke Römer erklärt, rechnet, liest vor, tröstet, sucht in allen Kisten im Kinderzimmer ein Schleich-Zebra für die Zoom-Konferenz, weil das Zebra Toms Lieblingszootier ist. Silke Römer erträgt. Aber alles hat seine Grenzen. „Ein Gehege für das Zebra haben wir bis heute noch nicht. Wann hätten wir das basteln sollen? Ich musste schließlich arbeiten.“ Und alleine basteln? Silke Römer winkt ab. Tom sei ständig neben ihr gestanden, hilfesuchend, aber auch mahnend. Wenn du nicht mitmachst, mach ich gar nichts. „Manchmal habe ich mich im Arbeitszimmer eingeschlossen.“

Zwei Wochen Kinder in Quarantäne – das sei für die Eltern oft eine größere Belastung als für die Söhne und Töchter. „Die müssen arbeiten, haben vielleicht finanzielle Sorgen und dann sollen sie trotzdem gut gelaunt die Spielesammlung durchwürfeln“, sagt der Kölner Kinderarzt Anselm Bönte. Und die Kinder selbst? Wie sehr leiden die? Das sei natürlich abhängig von Alter und Temperament. „Natürlich gibt es das ein oder andere Kind mit ADHS-Diagnose, das am dritten Tag das Wohnzimmer auseinandernimmt“, sagt Bönte. Und natürlich könne man bei vielen eine Gewichtszunahme seit dem Lockdown im Frühjahr beobachten. Generell seien Kinder aber anpassungsfähiger als man denke. „Viele Kinder können das gut ertragen. Sie sind robust. Ich bin ganz begeistert, wie gut die das machen.“

Wer von Toms Quarantäne erfährt, weicht zurück

Der Geburtstag von Toms Bruder Lenny fällt ins Wasser. „Sogar die Großeltern, die die Kinder seit Monaten nicht gesehen haben, wollten kommen.“ Sie haben dann abgesagt. Und auch die Geburtstagsfeier mit Freunden scheitert. Geplant war ein Ausflug auf einen nahegelegenen Abenteuerspielplatz. Silke Römer offenbart in der Whatsapp-Gruppe der Eltern von Lennys Freunden die Quarantäne des Jüngsten, um die Stimmung einzufangen. „Eigentlich war Lenny ja eh jeden Tag mit denen in der Schule. Insofern hätten die dann auch zum Geburtstag kommen können“, sagt Römer. Aber die Reaktionen sind abwehrend. Lieber nicht, heißt es. „Das hättest du mal besser nicht in die Gruppe geschrieben“, wird Silke Römers Mann später sagen. „Jetzt werden alle Lenny meiden.“ War dann auch so. „Zumindest ein bisschen.“ Überhaupt: Wann immer die Familie – ohne Tom natürlich – unterwegs ist und von Toms Quarantäne erzählt, weichen die Menschen zurück. „Alle sind sofort zwei Schritte zurückgegangen. Manche fragten: Was hast du denn dann draußen zu suchen?“

Selbst ein negativer Test entbindet nicht von der Quarantäne-Pflicht

Silke Römer hat Verbündete im Viertel. Alle Klassenkameraden von Tom sind betroffen. Viele meistern die Situation besser als Römer – zumindest suggerieren das einige Whatsapp-Nachrichten: „Wir schlafen jeden Tag in einem anderen Zimmer.“ / „Der Jonah kann jetzt Waffeln backen/die Kaffeemaschine entkalken/hat ein Modell vom Eiffelturm gebaut.“ / „Der Carlotta tut das total gut. Sie läuft seit zehn Tagen im Schlafanzug rum.“ Römer kann das ganze Quarantäne-Glück nicht glauben. Und schon gar nicht ertragen. „Jeden Tag in einem anderen Zimmer – wie soll das gehen? Wir haben ja nur ein Kinderzimmer.“ Silke Römer verlässt die Quarantäne-Eltern-Gruppe. Auch, weil sie die negativen Testergebnisse anderer Kinder unter Druck setzen. „Einige haben ihr Kind ins Auto gepackt und sind zum Drive-In-Test gefahren.“ Die Römers entscheiden sich dagegen. Was soll ein Test auch bringen? Von der Quarantäne befreit auch ein negatives Ergebnis nicht. Ein Vater aus der Nachbarschaft offenbart bei einer zufälligen Begegnung: „Die Jule soll halt mit Maske Fahrrad fahren und da, wo keine Kinder sind. Ich kann die unmöglich zwei Wochen einsperren.“

90 Prozent der Kinder als Kontaktperson I stecken sich nicht an

Nora von Obstfelder und Franziska Reiß von „Familien in der Krise“ haben eine ähnliche Forderung an Spahn und Wieler. Wenn man bedenkt, dass schätzungsweise mehr als 90 Prozent der Kinder, die derzeit als Kontaktperson Kategorie I in Quarantäne geschickt werden, sich nicht angesteckt haben und man berücksichtigt, dass selbst positive Kinder nicht so ansteckend zu sein scheinen wie Erwachsene, dann sollte es erlaubt sein, dass Eltern mit ihren Quarantäne-Kindern in den Wald fahren“, sagt von Obstfelder. Oder in den Park gehen. Oder auf einem freien Feld einen Drachen steigen lassen. Wandern. Mountainbike fahren in der Wildnis. Zudem: Eine Quarantäne dürfe auch bei Kindern nur für direkte Kontaktpersonen, so wie das RKI sie für Erwachsene definiert, angeordnet werden und nicht mehr automatisch für alle Kinder einer Klasse oder Kita-Gruppe.

Quarantäne geschafft – aber wer weiß, wann die nächste naht

Zwei Wochen Hausarrest. Ohne Natur. Ohne Bewegung. Ohne Besuch. Fast ohne Telefonate. Denn: Was soll ein Siebenjähriger auch groß am Telefon sagen? „Es ist fahrlässig“, schreibt Silke Römer nach zehn Tagen Quarantäne. Sie stelle sich vor, wie hart das erst für Alleinerziehende sei. „Es kann niemanden geben, der im Notfall zur Unterstützung kommt. Das kann nicht gut gehen. Weder für die Mütter noch für die Kinder.“

Tom hat die zwei Wochen Quarantäne mittlerweile überstanden. Sein Fazit: „Es war schrecklich langweilig, die ganze Zeit in der Wohnung zu sein. Am schlimmsten fand ich, dass ich nicht mit den anderen spazieren gehen konnte.“

An Tag eins der wiedergewonnenen Freiheit fährt er mit fünf anderen Quarantäne-Kindern auf einen riesigen Outdoorspielplatz. „Ich dachte noch, das ist jetzt wahrscheinlich viel zu anstrengend für ihn. Der war ja Bewegung gar nicht mehr gewohnt“, sagt Römer. Aber Tom findet es natürlich toll. Rennt. Schwitzt. Lacht. An Tag zwei nach der Quarantäne führt ihn sein erster Weg direkt in die Schule. Die Herbstferien haben begonnen, aber das ist Tom egal. Das Angebot: Ferienbetreuung. Und dazu sein bester Freund. Von beidem will er keine Sekunde verpassen. Und auch Silke Römer sagt: „Ich weiß jeden Tag zu schätzen.“ Der Quarantäne-Anruf, er kann sich jederzeit wiederholen.