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Urbäng!-Festival in KölnMette Ingvartsen tanzt bis zur Erschöpfung – das Publikum tanzt mit

Lesezeit 4 Minuten
Mette Ingvartsen liegt in „The Dancing Public“ auf einer Bühne aus einem Gerüst und greift mit der Hand ins Leere.

Mette Ingvartsen in ihrer Performance „The Dancing Public“, die auf dem Kölner Urbäng!-Festival zu sehen war

Die gefeierte dänische Choregrafin Mette Ingvartsen eröffnete das siebte Kölner Urbäng!-Festival im Orangerie-Theater im Kölner Volksgarten.

Der bekannteste Ausbruch der Tanzwut findet im Jahr 1374 in Aachen statt. Frauen, Männer und Kinder ziehen zuckend, drehend, torkelnd durch die Straßen, wie vom Teufel geschüttelt. Immer mehr Bürger erfasst die Choreomanie, sie vereinen sich zu Tanzzügen aus hin- und hergeworfenen Körpern.

Eine Krankheit? Öffentlicher Ungehorsam? Eine Strafe Gottes? Gelebte Ekstase? Innerer Zwang oder Befreiung von äußeren Fesseln?

Die dänische Choreografin Mette Ingvartsen widmet sich in ihrem Solo „The Dancing Public“ dem Phänomen der Tanzwut, oder, besser gesagt, dem kollektiven Tanzen an sich. Und was heißt schon solo? Ingvartsen performt inmitten des Publikums zu berauschendem Techno-Geklöppel, sie animiert zum Mitmachen, lacht, spiegelt die Bewegungen einzelner Zuschauer, ruft Beschwörungsformeln aus: „Heute Nacht werden wir tanzen, der Himmel wird tanzen, die Sterne werden tanzen.“

Die Aachener Choreomanie griff damals, 1374, auch aufs mittelalterliche Köln über. Das funktioniert immer noch. Der größte Teil der Menschen im Orangerie-Theater im Volksgarten hat sich angesteckt und tanzt jetzt. Manche legen sich mächtig ins Zeug, eskalieren wie zum Höhepunkt einer Clubnacht, manche lassen bestenfalls ein wenig die Schultern kreisen. Aber niemand verausgabt sich dabei so wie Ingvartsen.

Die erzählt jetzt via Mikroport die Geschichte der Tanzwut, atemlos, als Spoken-Word-Performance im Rhythmus der Bassdrum. Sie wirft ihre Glieder von sich wie eine Wahnsinnige, sie tanzt auf der Stelle wie ein Boxer im Ring, sie springt auf eine der drei, von senkrecht aufgestellten Neonröhren erleuchteten Bühnen.

Seine Premiere feierte „The Dancing Public“ vor zwei Jahren im Essener Pact Zollverein. Damals musste das Publikum noch mit Maske tanzen und die Produktion, wie wohl bereits vor der Pandemie konzipiert, wirkte wie ein gemeinsames wildes Aufbegehren gegen die verordnete Vereinzelung des Lockdowns.

Tanzen als Feier des gemeinsamen Regelbruchs nach Covid

Lange hatte man die Tanzwut in Zusammenhang mit der Pest gesetzt, der Schwarze Tod hatte nur wenige Jahrzehnte zuvor in Europa gewütet. Wie sollte man die Arbeit im Herbst 2021 nicht als Reaktion auf Covid interpretieren? Ein Hoch aufs Leben, auf den gemeinsamen Regelbruch!

Jetzt hat das die Freihandelszone, ein Netzwerk aus vier der wichtigsten Ensembles der Kölner freien Szene, Mette Ingvartsen zur Eröffnung der siebten Ausgabe ihres alljährlichen Urbäng!-Festivals nach Köln geholt. Zum ersten Mal übrigens. Das „Festival für performative Künste“ konnte über die Jahre mit so einigen gewichtigen Namen aufwarten, Mette Ingvartsen passt mit ihren akademischen Fragestellungen und exzessiven Umsetzungen genau ins Programm.

„The Dancing Public“ wirkt nun freilich so zwiespältig, wie es von ihr wohl immer gemeint war. Lustvolle Ekstase schlägt in selbstverletzendes Verhalten um. Ingvartsen streckt die Zunge raus, macht Fratzen wie ein Wasserspeier am Kirchturm, kratzt sich die Oberschenkel auf, robbt auf allen vieren bellend durch den Raum. Das Geklöppel hat sich zum unnachgiebigen Geboller gesteigert.

Die Performerin berichtet von einer jungen Frau, die ihr Neugeborenes ertränkt und zu tanzen beginnt, springt ans Ende des 19. Jahrhunderts und rappt vom Veitstanz der Hysterikerinnen in Charcots Pariser Salpêtrière. Gehörte der Tanz zum neuen Krankheitsbild, oder war er nicht eher ebenfalls eine Art Performance, die die fehldiagnostizierten Frauen für ihren Arzt und dessen staunende Besucher aufführten? Dann springt Ingvartsen zu den Tanz-Marathons, die während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre abgehalten wurden: Wochenlanges öffentliche Tanzen bis zum Zusammenbruch – und nur dem letzten auf der Tanzfläche verbliebenen Paar winkt ein Geldpreis: das „Squid Game“ der Großen Depression, eine Übung in Kapitaldarwinismus.

Doch nach einer Stunde, wenn Mette Ingvartsen schließlich geschunden und erschöpft hinter einem Vorhang verschwindet, hört der Beat nicht auf. Wer will bleibt und tanzt einfach weiter, ohne Anleitung, ohne Geschichte, ohne kritische Reflexion. Die Wut verfliegt, die Bewegung bleibt, als eine Abfolge utopischer Momente.

Davon sollen in den nächsten Tagen noch mehrere folgen, das Urbäng!-Festival geht noch bis zum 16. September im und um Orangerie-Theater weiter. Programminfos unter www.freihandelszone.org