Bassam Ghazi inszeniert Necati Öziris Roman „Vatermal“ mit Laien im Depot 2. Ein Glücksfall.
„Vatermal“-PremiereDiese 16 Kölner stehen zum ersten Mal auf der Bühne des Schauspiels
![Vatermal
nach dem Roman von Necati Öziri
Regie: Bassam Ghazi
Regie: Bassam Ghazi
Bühne: Karolina Wyderka
Kostüm: Justine Loddenkemper
Choreografie: Bahar Gökten
Video: Viktoria Gurina
Lichtdesign: Jan Steinfatt
Dramaturgie: Dominika Široká](https://static.ksta.de/__images/2025/02/08/8bd18e56-6155-4cb8-8f15-5bec816e7d02.jpeg?q=75&q=70&rect=306,312,3306,1860&w=2000&h=1334&fm=jpeg&s=21c4467eca957e8d42ed7fd409902c07)
Szene aus Bassam Ghazis Inszenierung von „Vatermal“ am Schauspiel Köln
Copyright: Sandra Then
Ardas Leber macht nicht mehr mit. Der junge Mann mit türkischen Wurzeln liegt auf der Intensivstation eines deutschen Krankenhauses. Jeden Abend trägt er die Blutwerte seines versagenden Organs in einen Laptop ein, als Dokument seines langsamen Todes. „Das ist keine Metapher in einem Bildungsroman für Kanaken oder so“, wendet er sich vom Krankenbett aus ans Schauspielpublikum. „Mein Immunsystem reagiert über, nimmt mich selbst als Fremdkörper wahr und greift die Organe an.“
Wenn es schon keine Metapher ist, könnte man es wenigstens Psychosomatik nennen. Der Körper von Arda ist gezeichnet vom abwesenden Vater. Der hatte die kleine Familie verlassen, bevor Arda ihn kennenlernen konnte, war in die Türkei zurückgekehrt, obwohl ihn dort eine Gefängnisstrafe erwartete. Als Zeugnis des fremden Vaters ist dem Sohn nur ein Leberfleck unter dem linken Auge geblieben: das Vatermal.
Necati Öziri Debütroman „Vatermal“war auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises
„Vatermal“, der 2023 erschienene Debütroman von Necati Öziri, der es bis auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte, beginnt als Brief an einen Vater, der durch seine Abwesenheit nicht weniger übermächtig ist als der berühmte Kafka'sche Haustyrann. Öziri aber verliert sich nicht in den Hirnwindungen seines Protagonisten, er öffnet dessen Familienroman zu einer größeren Geschichte über abwesende Väter in der migrantischen und postmigrantischen Erfahrung.
Dem entspricht die von Karolina Wyderka eingerichtete Bühne im Depot 2: Ganz rechts steht das Krankenbett, in dem Safa Raif Akşit, der den älteren Arda spielt, an den Vater schreibt. Links davon gibt ein großer, krankenhausgrüner Vorhang den Blick frei auf eine weiße, leicht angeranzte Landschaft aus Treppen, Türen und Podien. Hier spielen sich häusliche Dramen ab, hier trifft der jugendliche Arda – dargestellt von Jalal Chafik – seine ebenfalls vaterlosen Kumpels, hier wird auch die Geschichte von Ardas Mutter erzählt, die als Mädchen in der Türkei zurückgelassen wurde, während ihre Eltern in Deutschland das Glück suchten.
Regisseur Bassam Ghazi stellte in drei Monaten ein Laienensemble aus Köln zusammen
„Vatermal“ wurde erst vor wenigen Wochen zum ersten Mal in einer dramatisierten Fassung aufgeführt, am Maxim-Gorki-Theater, für das Necati Öziri auch Stücke schreibt. Während sich in Berlin drei Ensemblemitglieder sämtliche Rollen teilen, schöpft der Kölner Regisseur Bassam Ghazi aus dem Vollen der Stadtgesellschaft: 150 interessierte Laien waren einem Aufruf gefolgt, nach einem Workshop stellte Ghazi eine Gruppe von 16 Spielenden zwischen 14 und 54 Jahren zusammen.
Hier fühlen sich also keine staatlich geprüften Fachkräfte in eine postmigrantische Story ein, hier repräsentiert die diverse Gesellschaft sich selbst – was auch ein deutlicher Hinweis darauf ist, wie vergleichsweise wenig divers die meisten Theaterensembles in Deutschland immer noch sind.
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nach dem Roman von Necati Öziri
Regie: Bassam Ghazi
Regie: Bassam Ghazi
Bühne: Karolina Wyderka
Kostüm: Justine Loddenkemper
Choreografie: Bahar Gökten
Video: Viktoria Gurina
Lichtdesign: Jan Steinfatt
Dramaturgie: Dominika Široká
Foto: Sandra Then](https://static.ksta.de/__images/2025/02/08/434584b6-8a25-4a12-960c-678965fd8a4c.jpeg?q=75&q=70&rect=0,417,4000,2250&w=2000&h=1334&fm=jpeg&s=4dccd0b0e5696a9565e3f452a076911d)
Vatermal nach dem Roman von Necati Öziri Regie: Bassam Ghazi Regie: Bassam Ghazi Bühne: Karolina Wyderka Kostüm: Justine Loddenkemper Choreografie: Bahar Gökten Video: Viktoria Gurina Lichtdesign: Jan Steinfatt Dramaturgie: Dominika Å iroká Foto: Sandra Then
Copyright: Sandra Then
Bassam Ghazi hat 2008 das multiethnische Import Export Kollektiv gegründet, das seit 2015 dem Schauspiel Köln angehört. Später leitete Ghazi die partizipative Sparte am Düsseldorfer Schauspielhaus. Mit „Vatermal“ kehrt er als Stadtdramaturg nach Köln zurück und es ist schlicht unglaublich, was er in nur drei Monaten aus seinem frisch zusammengestellten Ensemble herausholt. Beziehungsweise, welche Kräfte die Neu-Akteure in sich selbst gefunden haben, nachdem Ghazi mit ihnen gearbeitet und ihnen einen inszenatorischen Rahmen gesetzt hat, in dem Ardas Erzählung einen unwiderstehlichen Drive bekommt.
Der Regisseur nutzt den ganzen Werkzeugkasten – Video- und Texteinblendungen, chorisches Sprechen, fließende Szenenübergänge, Publikumsansprachen, deutsche Beamtenfiguren wie aus dem Kasperletheater –, aber er stellt ihn so geschickt in den Dienst des Ensembles und der Story, dass er nahezu unsichtbar bleibt.
Was Necati Öziri zu erzählen hat, von der mit der Alleinerziehung in der Fremde überforderten Mutter, von der Schwester, die Hals über Kopf aus der zerrütteten Familie flieht, von Freunden, die sieben verschiedene Pässe (nur nicht den Richtigen) haben, von den Gängeleien in Schulen, Behörden oder Pflegefamilien, vor allem aber von den Vätern, die fliehen oder schlagen oder nur noch als leere Hüllen anwesend sind – sind auch die Geschichten der Menschen auf der Bühne (und sicher auch vieler im Parkett).
Dementsprechend unaufdringlich wirken die privaten Testimonials und der herausgeschrienen Verletzungen, um die Ghazi den Roman ergänzt. „Bei uns wird nicht miteinander, sondern gegeneinander gesprochen“, ruft eine. Ein anderer fantasiert davon, seinem abwesenden Vater ins Gesicht zu schlagen und beendet den gesprochenen Brief mit der beredeten Floskel „Hau rein“.
Als endlich die versammelte Ärzteschaft vor Ardas Krankenbett steht und zur Schlussdiagnose ansetzt, geht das Licht aus. Das Ende bleibt offen, die Wunde auch.