Verfilmung von Eoin Colfer„Artemis Fowl“ startet jetzt auf Disney+
Jetzt hat es also „Mulan“ erwischt: Disney will die teure Realversion seines Animationsfilms nicht mehr in die Kinos bringen, sondern beim hauseigenen Streaming-Dienst „Disney+“ starten. Dort steht bereits die Premiere eines weiteren „Abgeschobenen“ bevor: Auch „Artemis Fowl“ war als hochpreisiger Blockbuster für die Kinoauswertung konzipiert, dann aber kamen Disney in der Corona-Pandemie Zweifel. Sehnsüchtig wartende Fans der Kult-Romane um den genialen Verbrecherjungen Artemis Fowl müssen nun aufs Bezahlfernsehen umsteigen. Immerhin bleibt ihnen so eine herbe Enttäuschung im Kino erspart.
Disney verlor durch die Schließung seiner Vergnügungsparks Milliarden, auch das Geschäft mit Ferienressorts und Kreuzfahrten kollabierte, sodass das Kino derzeit Disneys kleinstes Problem sein könnte. Ist es aber nicht. Schon immer setzte Disney zunächst auf den Kinoerfolg seiner Figuren, um sie später als weltweites Merchandising zu nutzen. Was soll aber werden, wenn das Kino keine gewinnbringenden Ikonen mehr generiert, keine Eiskönigin Elsa oder kein modernes Aschenputtel? Mulan hätte vielleicht noch das Zeug gehabt, um die vertraute Geschichte geschäftstüchtig als Diskurs über Geschlechterrollen zu nutzen. Aber Artemis Fowl, dieses eiskalte Verbrechergenie im Körper eines Zehnjährigen?
Dabei ist Artemis Fowl eine der faszinierendsten Gestalten der zeitgenössischen Jugend-Fantasy-Literatur. Und das, gerade weil er keine schlicht „gute“ Identifikationsfigur ist, sondern ein widersprüchlicher, mitunter fragwürdiger Charakter, den man sich erarbeiten muss. Dafür belohnt einen der irische Schriftsteller Eoin Colfer (geboren 1965) mit acht rasanten Romanen voller Sprachwitz und grenzenloser Fabulierfreude.
Ausgehend von Legenden und Figuren aus der irischen Mythologie, geraten Artemis und seine illustren Weggefährten in aberwitzige Abenteuer, magische Unter- und verbrecherische Oberwelten, Reisen durch Zeit und Raum, Tod und Wiedergeburt. Inmitten alldem agiert Artemis Fowl als junger Superschurke, der mit genial ausgetüftelten Verbrechen die Suche nach seinem verschollenen Vater finanzieren will, bis er entdeckt, dass Freundschaft, Respekt und Gemeinschaftssinn alle Welten zusammenhalten. Was bei ihm heftige Schuldgefühle und Persönlichkeitsveränderungen hervorruft, wodurch alles noch komplexer, raffinierter und verrückter wird.
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Der überbordende Stoff hätte das Zeug zur Serie gehabt, und Disney spekulierte wohl auch auf Kino-Fortsetzungen. Dabei war man vorgewarnt: Mit der Philip-Pullman-Verfilmung „Der goldene Kompass“ (2007) war schon einmal eine populäre Jugendbuchreihe an der Kinokasse gescheitert, aktuell feiert sie als „His Dark Material“ Erfolge als Serie. Vielleicht wollte man deshalb keine angemessene Artemis-Fowl-Verfilmung, sondern nur ein weiteres, familienfreundliches Unterhaltungsstück der Marke „Disney“ – womit freilich das Scheitern schon im Ansatz programmiert war.
Disney ging auf Nummer Sicher. Mit dem Shakespeare-, Wallander- und Hercule-Poirot-Darsteller Kenneth Branagh setzte man eine Allzweckwaffe auf den Regiestuhl, die bereits mit kühlem Pragmatismus einen Harry-Potter-Film, aber auch Disneys Realversion von „Cinderella“ (2015) in Szene gesetzt hatte. Tatsächlich gibt es in „Artemis Fowl“ einige ähnlich überwältigende Schauwerte, etwa von der unterirdischen Elfen-Metropole Haven City, die sich auf der Kinoleinwand gut gemacht hätten.
Zugleich aber macht die Verfilmung kleingeistig kalkulierte Zugeständnisse an politische Korrektheit und Diversität, die die Geschichte schmerzhaft verändern. Artemis ist zwar immer noch ein Genie, aber kein Verbrecher, der seinen perfekt sitzenden, schwarzen Anzug nicht als Spiegel seiner Seele trägt, sondern als harmlos-schicke „Men in Black“-Pose. Seine Mutter, in den Romanen von großer emotionaler Bedeutung, ist tot, sein Vater nicht Oberhaupt einer Gangster-Familiendynastie, sondern ein Wissenschaftler, der das Elfenvolk vor der rachedurstigen Opal Koboi schützen will, Commander Root, bärbeißiger Leiter der Zentralen Untergrund-Polizei ZUP und Ersatzvater der Elfe Holly, ist jetzt eine Frau (immerhin gespielt von Judi Dench) und Zentaur Foaly galoppiert als sanfter Sissy-Boy durch die Szenerie.
Disneys „Artemis Fowl“ verklebt Handlungselemente aus den ersten drei Romanen zum seelenlos-routinierten Action- und Fantasy-Patchwork, das allenfalls in Unkenntnis der Buchvorlagen leidlich unterhält. Ob Disney mit der Auswertung in seinem Streaming-Dienst eine Strategie verfolgt, bleibt abzuwarten. Spätestens, wenn der Konzern auch noch den Kinostart des Marvel-Franchise „Black Widow“ absagen sollte, lägen die Karten offen auf dem Tisch: Disney hat kein Vertrauen mehr ins Kino, erst recht nicht in kinoaffines Erzählen. Dafür bräuchte man Fingerspitzengefühl und einen Hauch Magie, wie es Commander Root einmal wehmütig formuliert und erkennt: „Der Fortschritt nahm allem den Zauber.“
„Artemis Fowl“, USA 2020, Disney+