Ausnutzen der Corona-ÄngsteWarum die vermeintlich Erleuchteten brandgefährlich sind
- Wenn Fernsehköche, Fitnesstrainer, Instagram-Influencer und Popsänger plötzlich behaupten, im Besitz tieferer Erkenntnisse über die Corona-Krise zu sein, ist das zunächst einmal vor allem absurd.
- Leider reicht Kopftschütteln nicht, denn Verschwörungstheorien können extrem wirkmächtig sein.
- Niemand sollte die derzeit entstehende Bewegung, die zu Demos auch in Köln aufruft, verharmlosen. Denn den Verunsicherten folgen stets die Rechtsextremen als Parasiten der Bevölkerungsängste, wie die Geschichte zeigt.
- Eine Analyse.
Dass sich Angst und Falschinformation noch schneller verbreiten können als ein Virus, hat uns Steven Soderbergh bereits vor neun Jahren in seinem bemerkenswert gut recherchierten Pandemie-Film „Contagion“ gezeigt. Insofern ist es umso bemerkenswerter, dass ausgerechnet jetzt – Hand in Hand mit den sukzessiven Lockerungen der Quarantäne-Regeln – Bockigkeit, Irrationalismus und reiner Wahnsinn sich Bahn brechen und ins Freie strömen.
Am vergangenen Wochenende gingen Zehntausende auf die Straße, unter anderem in München, Stuttgart, Berlin und Köln, um gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung zu demonstrieren: Reichsbürger und Impfgegner, Esoteriker und Alternativmediziner, Neonazis und Linksradikale, AfD-Politiker und sogar ein FDP-Mann, der sich mit Hilfe der Rechtsextremen zum kurzzeitigen Ministerpräsident von Thüringen hatte wählen lassen.
Die Demonstranten trugen keine Masken, dafür aber Schilder mit Aufschriften wie „Gib Gates keine Chance“ oder „Demokratie statt Merkelatur“. Um den geforderten Mindestabstand scherten sie sich nicht. Warum auch, wo doch die Corona-Krise in ihren Augen nur die Verschwörung einer mächtigen Elite ist, um das Volk mittels Zwangsimpfungen und 5G-Netzwerken unter seine Kontrolle zu bringen?
Das Aufblühen neuer Verschwörungstheorien, beziehungsweise die Anpassung altbekannter Wahngebäude an die aktuelle Nachrichtenlage, gehörte zu den ganz wenigen Dingen, die man seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie mit großer Sicherheit voraussagen konnte.
Schließlich begleiten solche Verschwörungsideologien jede gesellschaftliche Krise. Sind gewissermaßen Symptome derselben. Der deutsche Historiker Dieter Groh hat sie bereits Mitte der 1990er Jahre in einem Essay in der Kulturzeitschrift „Kursbuch“ als „anthropologische Grundkonstante“ bezeichnet. Meint: Egal wo und wann Menschen in Gesellschaften zusammenleben, ein kleiner Teil von ihnen wird bedrohliche oder als bedrohlich empfundene Ereignisse und Gemengelagen als das Werk einer im Verborgenen operierenden Gruppe erklären.
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Nun galten noch Mitte der 1990er, als Groh seinen Aufsatz für das „Kursbuch“ schrieb, Verschwörungstheorien selbst in akademischen Kreisen als „sexy“, als gelebter Widerstand gegen die Dogmen der Mächtigen.
Postmoderne Großschriftsteller wie Thomas Pynchon und Don DeLillo nutzten sie als Plots und Subplots für ihre Romane, und nur manchmal ironisch gebrochen. Im Hollywood der 1970er Jahre spürten linke Regisseure wie Alan J. Pakula oder Sidney Pollack konspirativen Verwicklungen von Regierung und Großkapital in Filmen wie „Zeuge einer Verschwörung“ (1974) oder „Die drei Tage des Condor“ (1975) nach. Zwei Jahrzehnte später war davon nur noch der komische Standardcharakter des „conspiracy nut“ übrig geblieben, als liebenswerter Irrer mit verdrehten Ansichten, wie er etwa von Dan Aykroyd in „Sneakers – Die Lautlosen“ (1992) verkörpert wird.
Dann aber kam das Internet und mit ihm die Globalisierung und Beschleunigung der Verschwörungstheorien. Keine These war bizarr genug, als dass sie nicht weltweit ausreichend Anhänger fand, die sich im Netz dann als Gemeinschaft totaler Durchblicker erleben konnten.
Man denke nur an die wilden Behauptungen des ehemaligen englischen Sportreporters David Icke, denen zufolge die Geschicke der Welt von formwandelnden, reptilartigen Außerirdischen gelenkt werden, die sich von unserem Fleisch und Blut ernähren müssen, um ihr menschliche Tarnung zu bewahren. Nach einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2013 glauben übrigens vier Prozent aller Amerikaner, dass „Eidechsen-Menschen unsere Gesellschaft kontrollieren“. Das ist nicht nur komisch. Schaut man genauer hin variiert Icke in seinen Büchern und Blogposts vor allem jahrhundertealte antisemitische Verschwörungstheorien.
Derzeit glauben einer anderen Umfrage zufolge 29 Prozent aller US-Bürger, dass das Coronavirus in einem chinesischen Labor gezüchtet wurde, auch wenn sämtliche Experten dies für höchst unwahrscheinlich halten.
David Icke hat sich momentan jenen „conspiracy nuts“ angeschlossen, die das Coronavirus in Bezug zum 5G-Netzwerk setzten, woraufhin in Großbritannien sogleich einige Telefonmasten abgefackelt wurden. Irre? Selbstverständlich. Aber eben nicht harmlos.
Das Coronavirus transportiert solche Pseudo-Erkenntnisse quasi viral mit. Es greift unsere Gesundheit und unser wirtschaftliches Wohlergehen an, stürzt uns in einen Zustand permanenter Verunsicherung. Und provoziert Maßnahmen ebenjener staatlichen Organe, denen für Kurzschluss-Mythen aller Art anfällige Menschen immer schon böswillige Absichten unterstellt haben. Die Pandemie wird zur Infodemie.
Wie gesagt, das Coronavirus schafft eine bedrohliche, im steten Wandel begriffene Situation, mit einer dementsprechend unsicheren Informationslage. Eine Situation, die uns alle überlastet und überfordert. Kein Wunder, dass wir uns nach Komplexitätsreduzierung sehnen. Und auch danach, wieder an die Wirksamkeit des eigenen Handelns glauben zu können.
Verschwörungstheorien liefern Gewissheit und einfache, pseudokausale Erklärungen. Sie geben uns die Kontrolle und die Übersicht über die Krise zurück.
Zumindest scheinbar. Offensichtlich haben ja viele, die vergangenes Wochenende gegen die Maßnahmen der Regierung demonstrierten, diesen wochenlang Folge geleistet, zu Hause in ihrem eigenen Wahn geschmort, um jetzt lauthals mit der „Wahrheit“ aufzutrumpfen.
Fernsehköche im Besitz tieferer Erkenntnisse
Und wer ist in den Besitz dieser tieferen Erkenntnisse gelangt? Fernsehköche und Fitnesstrainer, Instagram-Influencer und Popsänger. Auch Anwälte und IT-Unternehmer. Jedenfalls niemand, der auch nur im mindesten qualifiziert wäre, irgendwelche verborgenen Absichten oder Konspirationen aufzudecken.
Wenn diese Erleuchteten nun die Lockerungen der Maßnahmen als Startschuss zum Coming-out nehmen und sich in neu gegründeten Bewegungen wie „Querdenken“ oder „Widerstand 2020“ organisieren, sollte man es nicht beim Kopfschütteln belassen. Sondern bedenken, wie wirkmächtig Verschwörungstheorien sein können. Bekanntlich glaubten Adolf Hitler und Joseph Goebbels an die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“, die eine jüdische Weltverschwörung belegen sollen. Den Verunsicherten folgen – auch das ließ sich voraussehen – die Rechtsextremen, als zuverlässige Nutznießer der Bevölkerungsängste.