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Kommentar

Vorwürfe gegen Rammstein
Wie soll ich mich verhalten, wenn mein Lieblingsstar Böses tut?

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Lesezeit 5 Minuten
01.08.2013, Schleswig-Holstein, Wacken: Till Lindemann, Frontmann von Rammstein, bespritzt mit einer Schaumkanone das Publikum.

Till Lindemann, Frontmann von Rammstein, bespritzt mit einer Schaumkanone das Publikum.

Soll man Rammstein-Shows nach den Missbrauch-Vorwürfen gegen Till Lindemann verbieten? Oder seine Pink-Floyd-Alben wegwerfen? Es ist kompliziert.

„Keine Show für Täter!“: Das Plakat hält eine Frau vor dem Münchner Olympiastadion hoch. Gleich soll hier Rammstein auftreten. Es ist das erste deutsche Konzert nach dem Bekanntwerden der Missbrauch-Vorwürfe gegen deren Sänger Till Lindemann.

Eine Umfrage des Meinungsinstituts Insa im Auftrag der „Bild“-Zeitung hatte zuvor ergeben, dass sich eine Mehrheit der Deutschen wünscht, die Band würde alle Konzerte bis zur Klärung der Vorwürfe absagen.

07.06.2023, Bayern, München: Aktivisten demonstrieren vor Beginn des Konzertes der Band Rammstein vor dem Stadion. Rammstein spielen in München am 07. + 08. + 10. + 11.06.2023 insgesamt vier Konzerte im Rahmen ihrer Europa Stadion Tour.

Aktivisten demonstrieren vor Beginn des Konzertes der Band Rammstein vor dem Stadion.

Die Fans sehen das ganz anders, die vier Münchner Konzerte sind ausverkauft, die Ticketpreise happig, kaum jemand bleibt weg. Einige pöbeln die Demonstranten auf dem Olympiagelände an. Auch das war zu erwarten. Wer moralisch gemaßregelt wird, reagiert oft mit kindlichem Trotz.

Oder mit zur Schau gestellter Indifferenz. Wie einige Besucher der höchst umstrittenen Roger-Waters-Konzerte im vergangenen Monat. Über die antisemitischen Äußerungen oder die prorussischen Positionen des Sängers, so ungefähr lautete das Argument, könne man ja diskutieren, man selbst sei allerdings wegen seiner großen Verdienste mit Pink Floyd hier – und das lasse man sich nicht nehmen. Dahinter steckt das alte Postulat, Künstler – nein, gendern muss man hier ausnahmsweise nicht – und Werk sei strikt zu trennen.

Autor und Werk soll man trennen, lehrt die Uni – aber ist es so einfach?

Das ist einerseits bequem, andererseits haben dies Generationen berufsmäßiger Kunstinterpreten so im Literaturtheorie-Seminar gelernt – von den russischen Formalisten bis zu Roland Barthes’ postmodernen Postulat vom Tod des Autors. Hat der Autor laut Barthes und Michel Foucault nun aber keine Bedeutung mehr für das Werk, sobald dies in der Welt ist, weisen also erst die Lesenden (oder Hörenden, Schauenden) dem Werk einen Sinn zu, dann ist es selbstredend völlig egal, wie problematisch sich der Künstler im Zivilleben verhalten mag.

Rammstein wäre dann die Summe dessen, was die Fans aus dem ästhetischen Angebot der Band machen. Und es ist ja in der Tat so, dass man die Popkultur derzeit am ehesten im Spiegel ihrer einzelnen Fankulturen begreift: Die Definitionsmacht liegt heute bei den Swifties, dem Bee Hive oder den Little Monsters – so nennen sich die Fan-Armeen von Taylor Swift, Beyoncé und Lady Gaga, noch militanter geben sich nur die Anhänger diverser K-Pop-Acts, die der Boyband BTS firmieren sogar unter dem Akronym A.R.M.Y..

Warum man über Rammstein- und Roger-Waters-Fans nicht die Nase rümpfen sollte

Es sind jedoch ausgerechnet möglichst private Frontberichte aus dem Leben der verehrten Stars oder Acts, die diese Armeen in Marschlaune versetzen. Fan-Interpretationen von Swift-Songs verknüpfen deren Texte Zeile für Zeile mit den Dating-Eskapaden der Sängerin. Was, wenn ein biografisches Detail sich nicht mehr in den erwartbaren Verlauf der Star-Erzählung einbetten lässt? Wenn ein Bericht zu verstörend oder verachtenswert wirkt, als dass man ihn noch in der Schublade „schwieriger Künstler“ verstecken könnte? Michael Jacksons Pädophilie oder Kanye Wests Hitler-Verehrung zum Beispiel?

Dann kann es passieren, dass sich der Sinn des Werkes aus der Sicht einer Mehrzahl seiner Rezipienten ändert, für lange Zeit und von Anfang an, in einer Art der Zeit entgegenlaufender Rückwärtskausalität. Das ist für die Sinnschaffenden ein enorm schmerzhafter Prozess.

Wer über uneinsichtige Rammstein- oder Roger-Waters-Fans die Nase rümpft, muss nur mal den eigenen Plattenschrank oder seine Spotify-Playliste nach cancelbaren Einträgen durchsuchen. Man wird unangenehm schnell fündig, im klassischen Rockgeschäft sowieso, Jimmy Page, Steve Tyler und David Bowie hatten nachweislich Sex mit minderjährigen Groupies. Moralisch verachtenswertes und kriminelles Verhalten, das viel zu lange als Rock-’n’Roll-Folklore verharmlost wurde.

Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ihren Hochzeitstanz zu R. Kelly absolviert

Doch die Liste problematischer recording artists lässt sich beliebig bis in die Jetztzeit fortschreiben, vom sexuellen Verhalten bis zum offenen Rassismus, von Arcade Fires Win Butler über Morrissey, bis hin zu R. Kelly, der wohl den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen wird. Keine Generation und kein Genre bleiben verschont. Und kein Fan.

Denn die Songs und Alben der Täter sind Teil unserer Biografien. Werden sie im Nachhinein durch öffentlich gewordene Fehltritte oder Vergehen ihrer Autoren zerstört, dann zerstören diese Taten auch einen Teil unserer Erinnerungen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ihren Hochzeitstanz zu R. Kellys „I Believe I Can Fly“ absolviert. Würden Sie sich nicht betrogen fühlen, oder beschmutzt?

Ob und in welchem Maß, das muss jeder Mensch mit sich selbst ausmachen. Deswegen gibt es auch keine einfache Antwort auf die Frage, ob man diesen oder jenen Künstler noch hören kann, oder sich seine Filme anschauen kann, etc.: Es gibt nicht wenige, sich geschworen haben, nie wieder einen Woody-Allen-Film zu gucken, aber lauthals mitsingen, wenn „Billie Jean“ aus dem Radio dröhnt.

Ich sollte an dieser Stelle zugeben, dass ich mir aus einer gewissen True-Crime-Faszination heraus (und weil die Beach Boys heimlich einen seiner Songs gecovert haben) auch schon eine CD mit Aufnahmen von Charles Manson gekauft habe, was ethisch auf keinen Fall in Ordnung gehen kann. Oder doch, weil von historischem Interesse? Gibt es überhaupt ein abschließendes, allgemeingültiges Urteil? Keine Show für Täter?

Nein, und das liegt nicht daran, dass man inkonsequent wäre. Und ebenso wenig daran, dass moralisches Empfinden von Person zu Person variiert. Es hat mit dem individuellen Bezug zum jeweiligen Werk zu tun, mit der eigenen Geschichte. So unterschiedlich die Reaktionen ausfallen mögen, eines haben sie gemeinsam: Man kann nicht einfach so tun als wäre nichts passiert.