Künftig will der WDR ein Geschichtsformat von Radio Bremen übernehmen.
In einem offenen Brief wenden sich 80 Prominente an die WDR-Geschäftsleitung und fordern den Erhalt des „Stichtag”. Unterschrieben haben unter anderem Günther Jauch, Denis Scheck, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Horst Eckert und Marielle Millowitsch.
Viele Autorinnen und Autoren fürchten, dass das Aus für den „Stichtag” auch eine weitere Sendung in Gefahr bringen wird.
Köln – Eröffnung der East Side Gallery 1990, fünfter Todestag von Pumuckl-Erfinderin Ellis Kaut, Süleyman der Prächtige besteigt den Thron des Osmanischen Reichs vor 500 Jahren, die Reise des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer nach Moskau im Jahr 1955 – das sind nur einige der Themen, die das vier Minuten lange WDR2-Format „Stichtag“ in diesem September beleuchtet hat. Doch mit diesem Aushängeschild im Radioprogramm des öffentlich-rechtlichen Senders soll es bald vorbei sein.
Der WDR plant, den „Stichtag“ zu streichen, zumindest den von WDR-Autorinnen und -Autoren produzierten. „Der »Stichtag« in WDR 2 soll nach aktuellem Stand von April 2021 an durch ein anderes Geschichtsformat ersetzt werden“, bestätigte ein WDR-Sprecher am Montag auf Anfrage.
Übernahme von Radio Bremen
An dieser Beitragsreihe, einer Kooperation mehrerer ARD-Anstalten, arbeite zurzeit federführend die Geschichtsredaktion von Radio Bremen in Abstimmung mit den beteiligten Redaktionen. Ob der Titel „As time goes by“ auch für den WDR übernommen werde, stehe noch nicht fest. „Der WDR prüft zurzeit, welche Rolle Geschichtsthemen mit regionaler Bedeutung aus NRW bei dieser ARD-Kooperation spielen können.“
Am 30. September soll der Programmausschuss des Rundfunkrats in dieser Causa, die eingebettet ist in zahlreiche andere Reformen bei WDR 2 und WDR 5, entscheiden. Doch es regt sich Widerstand. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wollen nicht hinnehmen, dass der WDR die seit 1997 etablierte Marke im Programm aufgibt.
Prominente werben für Umdenken
Der langjährige ARD-Korrespondent Horst Kläuser hat einen Offenen Brief an den Intendanten Tom Buhrow und Valerie Weber, die Programmdirektorin NRW, Wissen und Kultur, initiiert, der an diesem Dienstag im „Kölner Stadt-Anzeiger“ erscheint. Darin fordern 80 prominente Unterstützer aus Wissenschaft, Kultur und Politik, den „Stichtag“ zu retten. Zu den Unterzeichnern gehören Günther Jauch, Denis Scheck, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Horst Eckert und Marielle Millowitsch.
„In Zeiten von Fake-News, Verschwörungsfantasien und wachsender Demokratieverachtung wirken »Stichtag« und »Zeitzeichen« der gefährlichen Geschichtsvergessenheit entgegen“, heißt es in dem Brief.
Sie sehen nämlich nicht nur den „Stichtag“ in Gefahr, sondern auch den großen Bruder, das „Zeitzeichen“. Das knapp 15 Minuten lange Geschichtsfeature gibt es bereits seit 1972 im Programm des WDR. Viele Autorinnen und Autoren produzieren zu einem Thema zwei Beiträge für beide Reihen – nur so lohnt sich für sie der Aufwand. Zwischen sieben und zehn Arbeitstage investieren sie im Schnitt für die Herstellung, sagt ein Autor dieser Zeitung: „Das rechnet sich nur, wenn ich für beide Formate arbeite.“
Der NDR zieht sich zurück
Auslöser für diese Programmreformen ist der Rückzug des NDR zum 1. Januar aus einigen langjährigen NDR-WDR-Kooperationen. Dazu gehört neben Informationssendungen auf WDR 5 („Mittagsecho“, „Echo des Tages“, „Berichte von heute“) auch das „Zeitzeichen“, das dann nicht mehr täglich im NDR wiederholt wird.
Die Vergütung für diese Wiederholung machte aber bisher rund ein Drittel der Einnahmen der Autorinnen und Autoren aus. Der WDR habe daraufhin angeboten, das „Zeitzeichen“ künftig auf WDR 5 zu wiederholten, jedoch vergütet mit einem Betrag, der unterhalb der Hälfte der tariflich zugesicherten Mindestvergütung liege, wie es in einem Brief an den Rundfunkrat heißt, in dem Autorinnen und Autoren ihre Sorge um „die erfolgreichsten Geschichtssendungen in der europäischen Rundfunklandschaft“ formulieren. Das kompensiere nicht ansatzweise die Verluste.
Angst um die Qualität
„In Zeiten des Formatradios ist man für diese Möglichkeit, kreativ zu sein, dankbar“, sagt der Autor, aber für ihn stehe fest, dass er es sich nicht leisten könne, unter den neuen Gegebenheiten für das „Zeitzeichen“ zu arbeiten. „Ich will die Qualität nicht den Bach runtergehen sehen. Es tut uns im Herzen weh, wenn das kaputt gemacht wird.“ Zumal die beiden Formate mit Abrufzahlen von zusammen mehr als 1,5 Millionen im Monat auch als Podcasts sehr erfolgreich sind.
Das durch die Einstellung des „Stichtags“ zu erzielende Sparvolumen beläuft sich nach übereinstimmenden Angaben von Deutschem Journalistenverband und Autoren auf ungefähr 57 000 Euro pro Jahr. „Für eine vergleichsweise bescheidene Summe würde eine herausragende, podcast-starke WDR-Marke verschwinden und die WDR-Geschichtskompetenz nachhaltig geschwächt“, heißt es in dem Brief an den Rundfunkrat. Der WDR wollte diese Zahlen am Montag nicht kommentieren.
Geht es nicht nur ums Geld?
Manche Mitarbeiter befürchten, dass es beim Aus für den „Stichtag“ nicht nur ums Geld geht, sondern auch darum, dass die Beiträge von der Geschäftsleitung nicht länger gewünscht werden, weil sie mit ihren vier Minuten Länge nicht ins formatierte Programm passen. „Das passt nicht in den Audience Flow, es gibt ja auch sonst keine gebauten Beiträge mehr bei WDR 2“, so ein Mitarbeiter.
Der WDR betonte am Montag, Geschichtssendungen in WDR 2, WDR 3 und WDR 5 seien weiterhin ein wichtiger Teil der Erfüllung des Bildungsauftrags des Senders.