AboAbonnieren

„We Are Family“ im Schauspiel KölnGegen den Jahrtausende alten Fluch des Patriarchats

Lesezeit 5 Minuten
Szene aus „We are family“.

Szene aus „We are family“.

Jorinde Dröse inszeniert die Uraufführung von Tine Rahel Völckers Antikenüberschreibung im Depot 1.

Das Geschlecht der Tantaliden ist von einem Fluch verfolgt, seit sein Stammvater Tantalos den olympischen Göttern seinen eigenen Sohn als Gastmahl vorsetzte, um ihre Allwissenheit zu testen. Jede Nachfahrin oder jeder Nachfahre, besagte der Götterspruch, würde ein Familienmitglied töten und damit weitere Schuld auf sich laden. Wir wissen, wohin das führt: Der Achaierkönig Agamemnon opfert seine Tochter Iphigenie, um die Flaute zu beenden, die das griechische Heer an der Weiterfahrt nach Troja hindert. Seine Frau Klytaimnestra erschlägt den siegreich Heimgekehrten dafür im Bad. Ihr Sohn Orest wiederum rächt, angetrieben von seiner Schwester Elektra, den toten Vater durch Muttermord. So weit, so blutig.

Die Berliner Autorin Tine Rahel Völcker unternimmt nun nichts weniger, als den Versuch, dieses transgenerationale Trauma und seine Wiederholungszwänge zu durchbrechen. In ihrem Stück „We Are Family“, am Samstag uraufgeführt im Depot 1 des Schauspiel Köln, nutzt sie die großen Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides als Versatzstücke einer größeren Erzählung, der Urgeschichte des Patriarchats. Ob sich 2500 Jahre Kulturerbe einfach so locker flockig überschreiben lassen?

Die Hetäre muss sich erst einmal auskotzen

Warum denn nicht, denkt man sich schon nach wenigen Minuten in Jorinde Dröses Inszenierung: Die von Völcker zum Mythos dazuerfundene Hetäre Phryne muss zuerst heftig würgen, bevor sie das Publikum ins Zentrum der Macht führt. Magdalena Guts Bühne, eine große konkave holzverkleidete Wand, könnte sich im Inneren jeden Regierungsgebäudes befinden. Das passiere leider immer noch, kommentiert Hilke Altfrohne als „feingeistige antike Edelnutte“ ihr Würgen, dass eine Frau den Mund aufmache und zum Entsetzen der Gäste erstmal kotze: „Es hat sich einfach zu viel Mist in ihr gesammelt.“

Und er türmt sich noch weiter auf. Dröse trennt die einzelnen Szenen durch magenmassierendes Bassgrollen und Schwarzblenden. Als das Licht wieder angeht, steht Ronald Kukulies als Agamemnon in der Mitte der Bühne. Das Patriarchat trägt Feinripp-Unterwäsche, Altfrohne ignoriert Pokniffe und Anzüglichkeiten und legt ihrem Herrn den Körperpanzer an, eine Kombination aus goldenem Harnisch und modernem Anzug in Tarnfarben.

Bald stoßen noch sein Bruder Menelaos (Benjamin Höppner) und der Vorzeige-Held Achill (Leonard Burkhardt) dazu, drei Alpha-Würstchen, die sich wider besseres Wissen in einen unsinnigen Krieg ziehen lassen, schließlich geht es um die Ehre. Dröse und Völcker karikieren stark, das gilt auch für die Frauen, Agamemnons Gattin Klytaimnestra (Yvon Jansen) und Iphigenie (Hannah Müller) stöckeln in Babydolls ins Griechenlager: „Sei still und lächle, dann kannst du nichts falsch machen“, empfiehlt die Mutter der Tochter: „Und rede nur, wenn du gefragt wirst.“

Die Abschlussszene von „We Are Family“.

Die Abschlussszene von „We Are Family“.

Dennoch spürt man den Ernst der Lage, die unmittelbar bevorstehende Frauenopferung und den daran anschließenden Vernichtungsfeldzug gegen die Troer. Diese Balance hält die Inszenierung eine ganze Weile lang: Agamemnon, der die Tochter ernsthaft davon zu überzeugen sucht, dass er das schlimmere Los gezogen hat („Sieh doch, alle trauern um dich. Aber niemand sieht meinen Schmerz“) oder Achill, der sich als Paradebeispiel fragiler Männlichkeit um seine empfindliche Ferse sorgt. Es wäre allzu albern, würden sich nicht aus der Wirklichkeit etliche Beispiele für schreckliche Taten lächerlicher Figuren aufdrängen.

Der zweite Akt spult zehn Jahre vor: Klytaimnestra und Phryne sind ein Paar und regieren bereits seit zehn Jahren in Mykene und lassen sich dabei auch vom heimgekehrten Gatten nicht stören: Es sei bedauerlich, gibt Yvon Jansen die offizielle Sprachregelung vor, dass Agamemnon sich beim Sturz im Bad das Genick gebrochen habe. Auch Völcker kümmert der Gattenmord nicht allzu sehr, sie konzentriert sich ganz auf den politischen Streit zwischen Jansen und Altfrohne, der Realpolitikerin und der Revolutionärin. Nichts sei gewonnen, argumentiert die Hetäre, wenn Frauen an der Macht die Logik des Patriarchats einfach fortsetzten. Frau müsse das „Prinzip des gerechten Teilens über alles stellen und danach streben, die verlorenen Verbindungen der Menschen zur Natur und zueinander wieder aufzunehmen“.

Aber Phryne verrennt sich auch in ihrem radikalen Umsturzwillen, was nicht heißt, dass man Klytaimnestras machtpolitischem Kalkül vertraut. Schauspielerisch laufen beide Akteurinnen hier zu großer Form auf. Und es wird noch spannender, als Völcker eine dritte Stimme einführt: Maddy Frost gibt als Elektra das rechte Tradwife (so nennt das Netz Frauen, die längst überkommene Rollenmodelle propagieren). Sie habe keine Angst vor Männern, sondern vor Frauen, die sich wie Männer aufführen, erklärt Frost, unterstützt wird sie vom Chor der gefallenen Helden. Achill, Agamemnon und Menelaos sind als jammernde Marmorstatuen noch lustiger als im ersten Teil des Abends, Hannah Müllers Iphigenie dagegen hat sich als untote Wiedergängerin vom Naivchen zur klugen Mahnerin gewandelt.

Völckers nächste gute Idee besteht darin, Orest als Knaben auftreten zu lassen. Noch ist nichts verloren, der Tantalidenfluch ist kein Naturgesetz, denn der Junge ist liberal erzogen worden: „Meine Pflegeeltern haben mir beigebracht, dass alle Menschen gleich viel wert sind und Hass nichts bringt.“ Jetzt wäre es spannend gewesen, zu sehen, wie der Hass die besten Absichten vergiften kann, doch dann betritt die als lustiges Bilderbuchmonster verkleidete Iphigenie die Bühne, gibt sich als Deus ex machina zu erkennen und löst die Trauma-Tragödie in einer Art Stuhlkreis auf.

Die Kinder erschlagen die Mutter nicht, kein Blut fließt, stattdessen treten die Helden von ihren Podesten und die Schauspielenden aus ihren Rollen. „Nach dreitausend Jahren Krise sind wir vielleicht an einem Punkt, wo es so nicht weitergeht“, doziert Maddy Frost, man sei einfach erschöpft. Und so endet das Stück in einer Utopie, die allzu nah ans Märchen schrammt, in einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat: „Ich will, dass diese Familie irgendwann eine Therapie macht“, „Ich will, dass alle in der Familie gehört werden“. Weich sein, divers sein, gleichen Lohn empfangen, unabhängig vom Geschlecht, den Wert von Care-Arbeit anerkennen, und so weiter.

Nichts davon ist falsch und doch fühlt man sich auf einmal wie einer Schulaula-Aufführung, oder, schlimmer noch, wie in Friedrich Schillers selbstzufriedener Version von der Schaubühne als moralischer Anstalt, in der „von dem denkenden, bessern Teile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt“.

Da haben Jorinde Dröse und Tine Rahel Völcker den Fluch der Tantaliden gegen den Fluch der wohlmeinenden, gönnerischen Predigt getauscht. Und heimlich wünscht man sich – aber bitte nur auf der Bühne! – das bisschen Totschlag zurück.