Neues Album von DeichkindDie Linie zwischen stumpfer Abfahrt und hoher Kunst
- In ihrer Anfangszeit stieß Deichkind bei der breiten Masse vor allem auf Verwunderung - jetzt bringen sie ihr siebtes Studioalbum raus und füllen die großen Arenen Deutschlands.
- Mit seltsamen Kostümierungen, surrealistischen Musikvideos und ausartenden Bühnenshows bewegt sich die Band auf einem schmalen Grad zwischen Stumpfsinn und hoher Kunst.
- Warum sie trotz aller Skurrilität mit ihren Texten über Kapitalismus und Meinungsmache den Nerv der Zeit treffen und sie als Band der Stunde gefeiert werden.
Köln – Es muss so um die 13 Jahre her gewesen sein, als ein Getränkehersteller seine neueste Bier-Mix-Scheußlichkeit mit einem Konzert der Band Deichkind zu bewerben gedachte.
Der Auftritt sollte im Alten Pfandhaus im Kölner Süden stattfinden, das zu diesem Zweck mit einigem Aufwand als ungewöhnlich geräumige WG eingerichtet worden war, mit seinen weiß angestrichenen Sperrmüllmöbeln allerdings eher wie der Geist all jener Wohngemeinschaften wirkte, die man im Laufe eines Studentenlebens hinter sich lässt.
Auch Deichkind hatten damals ihre Jugend schon verschwendet, als semi-erfolgreicher Teil der Hamburger HipHop-Szene, die selbst ihre besten Tage hinter sich hatte.
Das wussten auch Deichkind und präsentierten sich in einem radikalen Kurswechsel als hedonistische Partyband mit grobmotorisch bollernden Bassgetrommel und sloganhaften Texten, deren doppelte Böden nur darauf warteten, aus heiseren Kehlen in bierselige Eindeutigkeit gebrüllt zu werden.
Kommerziell und kritisch fiel dieser Flirt mit dem Ballermann durch, ohne das Live-Erlebnis wollte das neue Konzept nicht aufgehen.
Leben für Krawall und Remmidemmi
Werbe-Events sind oft traurige Veranstaltungen, auf denen Gewinner minderkomplexer Preisrätsel um Freigetränke anstehen. Im Pfandhaus jedoch hatte sich unter „Krawall und Remmidemmi“-Ausrufen der in Mülltüten gekleideten Rapper eine eingeschworene Gemeinschaft gebildet, ein Mob, der sich gierig nach aus Gummischläuchen spritzenden Schnapsfontänen streckte und das Feier-Diktat der Band umgehend in Aktion setzte.
Man zog sich aus, öffnete kohlensäurehaltige Flaschen erst nach ausgiebigem Schütteln, hob die Musiker auf Schlauchbooten über die Köpfe, und warf schließlich die weiß gestrichenen WG-Möbel von der Galerie des Pfandhauses.
Sie landeten krachend dort, wo eben noch Tänzer standen. Die fröhlichen Vandalen sprangen gleich hinterher, rutschten lachend in Bierpfützen aus. Wie das Mix-Getränk hieß, das hier beworben wurde, wusste niemand mehr.
Jetzt haben Deichkind ihr siebtes Studioalbum „Wer sagt denn das?“ veröffentlicht, sie sind so erfolgreich wie nie zuvor. Die Deichkind-Mitglieder Philipp Grütering, Henning Besser und Sebastian Dürre haben inzwischen die Mitte 40 erreicht, und sie proklamieren noch immer die totale Party bis zum Filmriss der Verwertungskette, rufen ein Reich aus „Tausend Jahre Bier“ aus.
Imagewechsel: Konsumkritik statt Partybeats
Oder schützen Nachdenklichkeit vor, Kindern gleich, die Ermahnungen ihrer Erziehungsberechtigten nachmaulen: „Vielleicht sollte man kurz mal den Sinn des Ganzen hinterfragen/ Bevor sich dann doch wieder alle auszieh’n“, sprechsingt Grütering im niederschwellig tanzbaren Track „Keine Party“.
Im Video dazu sieht man den begnadeten Schauspieler und Selbstdarsteller Lars Eidinger an den trostlosesten Orten Berlin in wütender Verzückung tanzen, jeder aufstampfende Bodenkontakt eine Kritik an den Verhältnissen.
Denn hinter der massenkompatiblen Stumpfheit, die Deichkind einst aus dem Karrieretief in die Arenen der Republik katapultierte – am 29. Februar treten sie in der Kölner Lanxessarena auf – steckt ein gerüttelt Maß an Zeitdiagnostik.
Der Meinungsschleuder Internet etwa halten Deichkind im Titeltrack „Wer sagt denn das?“ seltsame, aber korrekt beobachtete Verweissysteme entgegen: „Die Schilder, die Regeln, die Presse, der Blog, die Päpste, die Jedi, der Hater, der Bot, Wetter.de und die Neue vom Chef, sie hat’s von Lena und die aus'm Netz.“
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In „Richtig gutes Zeug“ und „Dinge“ kommt die Konsumgesellschaft selbst zu Wort, mutierten Empfehlungen und Wünsche zu anonymen Drohungen: „Wer Dinge hat, muss Dinge zeigen“, lautet das Gesetz.
Surrealistische Kunst
Deichkind wirken wie ein Zerrspiegel mit angeschlossenem Subwoofer. Ihre Videos sind surrealistische Kunstwerke, bevölkert von Kunstwesen zwischen Oskar Schlemmers Triadischem Ballett und Matthew Barneys „Cremaster“-Filmen: Menschen, die sich in Tiefkühltruhen räkeln, mit jeder Zeile das Gesicht wechseln, die sich eine Hose aus „Yum Yum“-Verpackungen genäht haben; hundert Amazon-Pakete, gleichzeitig aus den Fenstern eines verlassenen Hochhauses geworfen, Drohnen, die wie verzweifelte Motten an den Decken von Möbelhäusern kleben.
Vor 13 Jahren warfen sich die Deichkinder in Mülltüten, um dem Ausverkauf zuvorzukommen. Inzwischen haben sie aus diesen Tüten ein einzigartiges Image-Arsenal aufgebaut, eine neongrelle Gegenwelt, in der sich das falsche Leben erst richtig feiern lässt. Sie sind die Band der Stunde.