Die Schauspielerin und Autorin Renan Demirkan stellt am Freitag ihr Projekt „Räume für Träume“ vor.
„Räume für Träume“Wieso Renan Demirkan Schulunterricht in „Lebenskunde“ fordert
Die Schauspielerin und Autorin Renan Demirkan stellt am Freitag im Filmforum im Kölner Museum Ludwig den Dokumentarfilm „Räume für Träume“ zu ihrem gleichnamigen Projekt vor. Er begleitet einen Workshop an der Europaschule Köln-Zollstock zum Thema Demokratieunterricht, der Grundlage für weitere Schulungen werden soll. In dem Projekt des Vereins „Checkpoint: Demokratie“ üben die Jugendlichen das Verstehen des Anderen und Respekt voreinander zu haben – indem sie miteinander reden, Emotionen zulassen und zuhören. Wir haben mit Renan Demirkan über das Projekt gesprochen.
Renan Demirkan, ist der Film das Ende eines Projekts oder ist es ein Anfang?
Renan Demirkan: Beides auf einmal, deswegen ist es so aufregend. Es ist das Ende des Prologs. Jetzt beginnt der harte Weg, jetzt braucht der Verein strukturelle Förderung. Ich werde in ein paar Wochen 68 und ich würde gerne noch tanzend den Epilog erleben, also wenn wir einen Studiengang für ein neues Lernangebot in „Lebenskunde“ haben.
Welche Bedeutung hat der Film für Sie und was hat Lebenskunde mit ihm zu tun?
Das Konzept ist zum einen aus einem Grundbedürfnis von mir nach einem umfassenden Verstehen der Welt gekommen. Ich bin zwischen tausenden Büchern aufgewachsen, mein Vater war Ingenieur im eigentlichen Beruf – und zu Hause Philosoph. Aber wie er mich zum Denken bringen wollte, hatte eher etwas von Zwang. Ganz früh musste ich den kategorischen Imperativ nicht nur auswendig lernen, sondern auch erklären können. Mein Vater war ein Kantianer. Der zweite Teil der Antwort hat mit meiner Herkunft zu tun. Ich gehöre der Volksgruppe der Tscherkessen an. Das ist eine ganz andere Mischpoke als die Türken. Meine Vorfahren kommen aus dem Kaukasus und die haben eine ganz andere Sittenlehre und Strenge im Leben, weil es keine Schriftsprache gibt. Vielleicht hatte Bildung deshalb eine so zentrale Bedeutung in unserem Leben.
Was hat es mit Ihnen gemacht, so aufzuwachsen?
Das Mündliche zwingt zu bestimmten Formen, die zu Hause eingehalten wurden: Junge Menschen dürfen nicht neben Älteren reden. Mein Vater sagte mir oft, ich solle viel lesen, aber erst mit ihm reden, wenn ich das getan habe. Dann gibt es noch eine seltsame Geschichte des Stolzes oder des Selbstschutzes bei den Tscherkessen: Man redet nicht über Gefühle, das ist ein Zeichen von Schwäche. So bin ich sehr kopflastig geformt worden und war sehr scheu. Und dann kam ich in die Schauspielschule.
Was für ein Kontrast.
Ja! Ein Jahr lange haben ich nach meinem Wirtschaftsabitur rumgejobbt, weil ich nicht wusste, was ich machen sollte. Dann saß ich in einer Kneipe und habe ein Mädchen kennengelernt, die Schauspiel studierte, das war der Trigger. Mein Vater ist ein Film-Fanatiker, ich kenne alle amerikanischen Schwarz-Weiß-Filme, alles, was Hollywood bis dahin produziert hatte, weil wir als eine der ersten in den 1960ern einen Schaub-Lorenz-Fernseher hatten. Aber ich bin nicht darauf gekommen, dass man Schauspiel lernen kann. Eine der ersten Stunden des vierjährigen Studiums wurde dann aber direkt ein Life Changer für mich. Wir mussten eine Improvisation machen – die sollten wir übrigens in jede Schule, in jedes Studienfach einführen –, die nennt sich „Zug um Zug“, ist nonverbal. Das heißt: Ich mache was – Sie machen was; Blick – Körperreaktion; rein auf das Empfinden aufgebaut, auf das Fühlen, Spüren, von zwei Adjektiven begleitet: absichtslos und urteilsfrei. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig es ist, nur darauf zu vertrauen, dass man Emotionen hat und dass man, wenn man sie zeigt, nicht zu Asche zusammenfällt.
Renan Demirkan: Komfortzone im Kopf, ersehnte Welt in der Emotion
Im Film ist zu sehen, wie Jugendliche ihre Emotionen in Sprache umwandeln, wodurch sie und ihre Erfahrungen hörbar und sichtbar werden. Wie passt das zu der Philosophie, mit der Sie aufgewachsen sind?
Meine Komfortzone ist im Kopf, aber meine ersehnte Welt ist in der Emotion, im Gefühl. Es fühlt sich an, wie ein Ort maximaler Freiheit. Und an diese Idee dockt das Projekt an. Durch die Schauspielausbildung habe ich die Kraft der Emotionen nicht nur in der Literatur nachempfinden können. Die wichtigste Lektion für mich als Mensch war, dass das Aussprechen der Gefühle, immer auch verbunden ist mit Verstehen. Und dass durch Verstehen immer auch Beziehungen entstehen. Dann schrieb ich „Respekt: Heimweh nach Menschlichkeit“ in dem Umbruch nach der Finanzkrise 2008, 2009. Hirnforschung war da sehr modern und das Internet hat schon unseren Alltag beherrscht. Die Wissenschaftlerin Susan Greenfield sagte, proportional zu dem, wie wir Informationen vernetzen, also intelligenter werden, baue, wenn wir in dieser zweidimensionalen Welt vor dem Computer sitzen, die Empathie ab. Ein Schreckensszenario!
Also geht die emotionale Intelligenz verloren?
Sie ist ein Teil der Intuition. Antonio Damasio, ein Neurowissenschaftler, hat Descartes quasi ad absurdum geführt, indem er geschrieben hat: Ich fühle, also bin ich. Demnach entsteht Bewusstsein tatsächlich erst einmal durch Intuition. Und diese emotionale Intelligenz ist, wenn sie so wollen, ein Teil der Intuition, der Empathie, die nur dann funktioniert, wenn man sie fordert, abverlangt, selbst trainiert. Es ist wie Kreativität. Es ist ein Muskel.
Wie trainieren Sie Empathie?
Indem ich gelernt habe, bereit zu sein, „urteilsfrei und absichtslos“ in die Welt zu gehen. Im Jetzt zu sein. Analog und in Echtzeit. Sonst hätte keine Rolle in mir einen Platz gefunden. In dem Film wird sichtbar, welch eine wunderbare Dynamik durch diese Bereitschaft entstehen kann. Ich wusste nicht, ob die Schülerinnen und Schüler, die ja die erste Generation Digital Natives sind, das annehmen. Aber sie haben es förmlich aufgesaugt, diese Minimal-Anforderung, niederschwellig zu fragen: Wie geht es dir? Erzählt, wir hören zu. Wir geben dir einen geschützten Raum und du kannst dir so viel Zeit nehmen, wie du willst.
Schauspielerin und Autorin Renan Demirkan erklärt, wie man am Leben lernt
Man sieht im Film, wie die Jugendlichen sich öffnen und aufeinander aufbauen.
Das Bedürfnis danach ist da, wird nur nicht im normalen Schulbetrieb bedient. Kein Lehrer fragt: Wie geht es dir? Weil es im System nicht angedacht ist. Er muss beurteilen. Aber wir müssen, je weiter die Technik in unseren Alltag hinein reicht und wie Wurzeln an uns anwächst, lernen, mit diesem Wurzelwerk umzugehen, damit wir nicht zu empathielosen KIs mutieren. Das unterscheidet uns von ihnen.
Was sollte also an Schulen passieren?
Ich liebe diese Bundesrepublik, nur glaube ich, dass sie, was Bildung betrifft, einen Kardinalfehler macht. Sie überlässt die Bildung konkurrierenden Systemen, in denen sie zu parteipolitischen Entscheidungen wird, unterschiedlich von Bundesland zu Bundesland. Würde man das mit der Legislative tun? Der Exekutiven oder Judikativen? Nein. Die Edukative muss eine Institution werden. Ich wünsche mir, dass die Bildung zum Staatsprinzip aufgewertet wird. Ein Prinzip, das allen Kindern durch alle sozialen Schichten dieselben Chancen ermöglicht! Wir brauchen Fächer wie Mathematik, Geschichte oder Biologie, um die Welt besser zu verstehen. Aber heißt das, dass der Wissens-Unterricht nur zusammenhangslos abgearbeitet werden muss? Nein. Jedes der Fächer dient uns, die Welt ein bisschen besser zu verstehen. Und das gilt es herauszufinden. Welche Bedeutung hat dieser oder jener Unterricht für jeden einzelnen? Welchen Sinn? Erst wenn wir eine emotionale Beziehung zu dem enzyklopädischen Wissen herstellen, bleibt es in Erinnerung. Nur hilft uns niemand, diesen Bezug zu finden. Ich denke, es wäre ausreichend, wenn wir vier Tage die Woche Wissensvermittlung machen und einen Tag „Lebenskunde“.
Und das ist „Räume für Träume“?
Genau, dieses Verbindende des faktischen Wissens in Lebenskunde umwandeln können. Das geht nicht mit einer Reform. Wir müssen Bildung neu denken. Vier Tage lernen, einen Tag Reflexion, Ich-Findung, emotionales Training, Gefühle in Sprache verwandeln. Und damit den Anderen verstehen und das Wissen anders in das Leben integrieren, an ihm lernen.
Wie lernen Sie am Leben?
Ich bin schon ein bisschen Nerd, es gibt zwei Sachen, die mich prägen: Wirklich leben zu wollen und ich bin irrsinnig neugierig. Ich will immer wissen, worüber Menschen reden. Mich interessiert einfach alles, was lebt. Und davon lerne ich.
„Räume für Träume“, 67 Minuten, Filmforum im Museum Ludwig, Köln, 28.4., 18 Uhr