Das letzte Buch des großen Kunsthistorikers Willibald Sauerländer bringt die Bilder des Landschaftsmalers Nicolas Poussin zum Sprechen.
Willibald Sauerländer über PoussinEin Maler, beispiellos zu seiner Zeit und heute immer noch
Vermutlich ist es ein Glück, dass die Schriften des Philosophen Diogenes verloren gingen, denn dank seiner öffentlichen Existenz (in Fässern und auf Marktplätzen) wissen wir, dass man eine Tugendlehre auch aus lauter Anekdoten ableiten kann. Eine besonders schöne Diogenes-Schnurre versetzte der französische Landschaftsmaler Nicolas Poussin (1594-1665) in ein beinahe etwas zu herrliches Bühnenbild. Wir sehen den antiken Gelehrten der Bedürfnislosigkeit auf einem Wanderweg, eine verführerisch in die hügelige Landschaft gebettete Stadt liegt hinter ihm. An einem Bachlauf trifft er auf einen jungen Naturburschen, der Wasser aus seiner hohlen Hand trinkt. Sogleich lässt Diogenes seine treue Holzschale fallen und schimpft sich einen Dummkopf: „Wie lange habe ich überflüssiges Gepäck mit mir herumgeschleppt.“
Man kann nicht behaupten, dass Nicolas Poussin sein Loblied der Genügsamkeit mit bescheidenen Mitteln arrangierte. Alles an seinem Landschaftsbild wirkt sorgsam durchkomponiert, das antike Griechenland könnte man sich nicht schöner träumen. Gerade auch wegen Poussin sollte man solche Landschaften heroisch nennen. Aber der Maler löste den scheinbaren Widerspruch zwischen dem, was er zeigte, und der Art, wie er es zeigte, formvollendet auf: Diogenes dreht der Schönheit den Rücken zu, um ein einfaches Glück zu finden - gerade darin besteht sein Heldentum.
Eine moderne Pointe des Bildes könnte darin liegen, dass es niemand mehr betrachtete, würden wir uns an Diogenes ein Beispiel nehmen. Aber da besteht vermutlich keine Gefahr, zumal, solange es Bücher wie Willibald Sauerländers „Die Natur im Stundenglas der Zeit“ gibt, die uns die Landschaftswunder eines Poussin auf Augenhöhe des Malers erklären. Dabei ist das letzte Werk des 2018 hochbetagt verstorbenen Münchner Kunsthistorikers ein Fragment geblieben. Lediglich 71 fertige Manuskriptseiten hinterließ Sauerländer, dazu, so der Herausgeber Reinhold Baumstark, eine Vielzahl an Anmerkungen und Entwürfen. Das Finale des Buchs, eine Betrachtung von Poussins Zyklus der „Vier Jahreszeiten“, ist überdies der Nachdruck eines bereits 2008 erschienenen Aufsatzes. Baumstark rechtfertigt seine Collagearbeit mit den Worten des Autors: „Sauerländer 2008 – enthält Alles für meine Deutung“, lautete ein Memo Sauerländers an sich selbst.
Dem nun vorliegenden Buch merkt man das Fragmentarische kaum an, was auch an Sauerländers Konzeption liegt. Der erste Teil besteht aus „Monographien“ einzelner Bilder, Bildergruppen oder Themenkreise – den weiten erzählerischen Bogen, den Sauerländer in früheren Büchern, etwa beim „katholischen Rubens“ oder über das „Jahrhundert der großen Kathedralen“, spannte, darf man hier nicht erwarten. Stattdessen findet man auf beinahe jeder Seite treffende Einsichten und kundige Beschreibungen der zahlreichen Illustrationen (die schmale Textgestalt machte eine üppige Bebilderung des Bandes möglich). Ähnlich wie Poussin gelingt es Sauerländer, uns durch seine Belesenheit zu bereichern, ohne sich mit dieser aufzudrängen. Sei es in der Geschichte des Diogenes, den meteorologisch aufgelösten „Schrecken der Natur“, oder in den „Schicksalsspuren“, die Poussin als Wege durch seine Landschaften zog. Elegante Erzähler waren beide.
Das Buch ist sowohl Sauerländers Wiederbegegnung mit einer alten Liebe (1956 erschien seine damals vor allem in Deutschland bahnbrechende erste Poussin-Studie) als auch mit dem eigenen Forscherselbst von vor mehr als 50 Jahren. Mit seiner allegorischen (und spekulativen) Deutung von damals geht Sauerländer hart ins Gericht, sein Buch ist auch der späte Versuch, die Geister, die er rief, wieder zu bändigen. Über Poussin sei „viel geschrieben und manches ausgedacht worden“, schreibt er, im Zuge einer „ikonologischen Welle“ seien aus Poussins Gemälden geradezu Vexierbilder einer Wissenschaft geworden, die nach verborgenen oder vor den Zeitgenossen bewusst versteckten Bedeutungen sucht. Dabei handelten diese, so der späte Sauerländer, von etwas sehr Konkretem: dem Glück und Unglück der Menschen und ihrer Leidenschaften.
Eindrucksvoll zeigt Sauerländer dies in seiner Deutung der „Vier Jahreszeiten“, deren „landschaftliche Vermählung zwischen den Gezeiten in der Natur und den Ereignissen der biblischen Geschichte“ in Poussins Epoche ohne Beispiel gewesen sei. Den Frühling zeigt der Maler als Garten Eden ohne Tiere und vor allem ohne Schlange. Inmitten des üppigen Grüns sehen wir Eva auf den sitzenden Adam einreden und in Richtung der verbotenen Früchte zeigen. Sauerländer erkennt darin einen „vorwitzigen Hauch von Gewissensfreiheit“, die „geschichtliche und sittliche Verantwortung“ werde „dem im Urzustand befindlichen Menschenpaar zugemessen“. Am Himmel kündigen derweil vom Gottvater persönlich herbei gescheuchte Wolken eine Wetterwende an. Alle Symbolik sei manifest, so Sauerländer, nichts verborgen.
Auch hier bewundert Sauerländer, wie Poussin seine Gelehrsamkeit nutzt, um sich von der Überlieferung zu lösen
Der Sommer verlangt traditionell nach einem Erntebild. Poussins sommerliche Landschaft hat für Sauerländer eine beinahe „heidnische Feierlichkeit“, dabei ist sie vor allem die Bühne für die erste Begegnung von Rut und Boas, einem biblischen Ehepaar, das zu den Ahnen Christi zählt. Hier leite Poussin seine Bilderfolge elegant vom Alten zum Neuen Testament hinüber, schreibt Sauerländer, und nehme die Erlösung der Menschen von der Erbsünde in der Gestalt des (abwesenden) Gottessohns vorweg. Poussins Meisterschaft zeige sich aber auch darin, wie er die Erntehelfer aus ihrem üblichen Statistendasein befreie und in die Erzählung einbinde.
Während das Herbstbild der Eucharistie gewidmet ist (die Kundschafter Moses‘ schleppen eine riesige Weintraube aus dem gelobten Land), lässt Poussin seine Winterlandschaft in der biblischen Sintflut untergehen – während die Arche Noah im Hintergrund gemächlich aus dem Bild treibt, kämpfen die Menschen im Vordergrund verzweifelt um ihr Leben. Auch hier bewundert Sauerländer, wie der Maler seine Gelehrsamkeit nutzt, um sich von der Überlieferung zu lösen; ein hinzuerfundener Blitz erscheint ihm als Lichtquelle einer vorweggenommenen Romantik. Jetzt taucht auch die Schlange auf, die im Paradiesbild fehlte und schließt die Klammer der Jahreszeiten.
Anders als sein jüngeres Ich sieht Sauerländer im Winter kein jüngstes Gericht mehr. Sondern das christliche Verhältnis des Menschen zu seinen Geschicken dargestellt: „Das Schicksal ist nicht mehr blindes Verhängnis, sondern Schuld, Folge eines Abfalls von Gott.“ Aber der Tod ist nicht das Ende. Auf die Sintflut folgt ein neues Morgen, wenn auch nicht im Paradies.
Willibald Sauerländer: „Die Natur im Stundenglas der Zeit. Poussins Landschaften“, C.H. Beck, 288 Seiten, 71 Bilder, 58 Euro.