Wolfgang Tillmans zeigt eine riesige Werkschau in seiner Geburtsstadt Remscheid und gemeindet diese seinem schillernden Kosmos ein.
Wolfgang Tillmans in RemscheidHeimkehr des verlorenen Sohns

Ausschnitt aus Wolfgang Tillmans Stillleben „Kinshasa“ (2018)
Copyright: Courtesy of Galerie Buchholz
Remscheid gehört zu den regenreichsten Orten in Deutschland, verdankt seinen Beinamen „Seestadt auf dem Berge“ aber nicht der für Steigungsregen günstigen Lage, sondern den guten Handelsbeziehungen seiner Werkzeugindustrie nach Übersee. Bereits 1929 wurde die östliche Spitze des Bergischen Städtedreiecks offiziell zur Großstadt, und als der WDR 1961 für die Verfilmung von Francis Durbridges „Das Halstuch“ die Stellvertreterin einer typisch englischen Ortschaft suchte, stellte er seine Kameras auch im Remscheider Stadtteil Lennep auf.
Es ließe sich manch Gutes mehr über Remscheid schreiben, und doch wundert es einen nicht im Geringsten, dass Wolfgang Tillmans seine Heimatstadt zu klein wurde. Der 1968 in Remscheid geborene Fotograf ist heute vor allem als Chronist eines hedonistischen Lebensgefühls berühmt, das in der regennassen bergischen Provinz ungleich schlechtere Bedingungen vorfindet als in Hamburg und London – den ersten Stationen von Tillmans‘ Weltkarriere. Für die großen Trendmagazine der Neunziger Jahre schuf er Ikonen einer Subkultur, die zuweilen allerdings alles andere als Dokumente waren. „Man pinkelt ja nicht einfach mal so auf den Stuhl“, sagte Tillmans einmal über eine seiner berühmtesten Aufnahmen. „Das sind Bilder, die ich inszeniert habe, gemischt mit Bildern, die spontan entstanden sind.“ Zusammen habe beides ein authentisches Gefühl ergeben über die Sehnsüchte seiner Zeit.
Die Remscheider Werkschau gleicht einer späten Liebeserklärung
Es spricht für die große Verführungskunst des Fotografen Wolfgang Tillmans, dass man jetzt trotzdem durch seine große Remscheider Ausstellung spaziert, wie durch das visuelle Tagebuch seines und unseres Lebens. Man sieht Blicke aus dem Flugzeugfenster, Stillleben am Frühstückstisch, Jodie Foster beim Melonen-Schneiden und Lutz und Alex, die nackt in offenen Mänteln in einem Baum sitzen, als wären sie Adam und Eva einer neuen Zeit. Die ganze Welt ist eine große Wohngemeinschaft mit kollektiv genutztem Paradiesgarten: Dieses Versprechen machte Tillmans zu jedermanns Liebling. In Remscheid mögen sie sich bang gefragt haben, ob auch sie zu dieser Welt gehören.
Die Werkschau mit dem selbsterklärenden und leicht absurden Titel „Wolfgang Tillmans – Ausstellung in Remscheid“ ist eine Antwort, die einer späten Liebeserklärung gleicht. Tillmans hat die 30 Wohnräume einer frisch renovierten Bürgervilla aus der Rokokozeit mit mehr Arbeiten behängt, als das New Yorker Museum of Modern Art vor drei Jahren in der ihm gewidmeten Retrospektive zeigte. Und er brachte zur feierlichen Wiedereröffnung von Haus Cleff („einem der schönsten Bürgerhäuser des Bergischen Landes“, so die Selbstauskunft) mehrere ortsspezifische Werkreihen mit: im letzten Jahr entstandene Arbeiterporträts und Aufnahmen von Industriemaschinen, Menschen auf der Straße, die in ihrer Jugend weder Raver noch Berühmtheiten waren, und nun als Kinder von Lutz und Alex in den schillernden Tillmans-Kosmos eingehen.

„Kate McQueen“ (1996) von Wolfgang Tillmans
Copyright: Courtesy of Galerie Buchholz
So ganz ist Tillmans selbstredend nie weg gewesen. Gleich im ersten Ausstellungsraum hängen neben Kate Moss (mit Erdbeeren) und Reisebildern mehrere Remscheider Aufnahmen, darunter die fantastische „Häusliche Szene“, die eine Frau mit Trockenhaube von hinten vor zwei Bürgerporträts in goldenen Rahmen zeigt. Auf einer anderen Fotografie springen zwei Rehe über bergische Gleise – wie zum Beweis dafür, dass Tillmans das Glück für den richtigen Augenblick stets bei sich trägt.
Tatsächlich findet Tillmans die Schönheit überall. Er ist ein Händler des Zufalls, auch wenn diesem manchmal nachgeholfen werden muss. Wie viele der atemlosen Momente am Frühstückstisch oder der wunderbaren Fensterbank-Stillleben sind wohl arrangiert, wie viele spontane Schnappschüsse zu schön, um authentisch zu sein? Wahr sind sie in jedem Fall, weil wir an sie glauben wollen. Wie könnten Sehnsüchte auch Lügen sein?
Schon früh interessierte sich Tillmans für die Materialität der Fotografie
Tillmans Bilder handeln vom Glück der Freiheit und vom ungezwungenen Zusammen-Sein - und prägen damit sein stilbildendes Ausstellungsdesign. Auch das Haus Cleff hat er in eine verwinkelte Posterwand verwandelt, aus der Patriziervilla ist eine mit Souvenirs tapezierte WG geworden, ein besetztes Haus, in dem selbst die alten Schränke mit Andenken an Tillmans Karriere prunken. Wie immer sind Motive und Formate bei ihm bunt gemischt, vom kleinen, an die Wand gesteckten Abzug bis zur monumentalen Papierfahne und der „Hinterglasmalerei“ seiner abstrakten „Lighter“-Bilder ist alles dabei. Einige Räume sind dagegen für bestimmte Themen und Motive reserviert: für Industrieaufnahmen, astronomische Bilder, die „Paper Drops“ genannten Aufnahmen gebogenen Fotopapiers oder seine abstrakten „Freischwimmer“-Bilder, die unter Umgehung der Kamera mit Belichtungseffekten in der Dunkelkammer entstehen.
Schon früh interessierte sich Tillmans für die Materialität (oder eben Immaterialität) der Fotografie. Im Haus Cleff zeigt er seine noch in Remscheid entstandenen Experimente mit dem Schwarz-weiß-Fotokopierer, und auch seine späteren Mondbilder lassen sich aus jugendlicher Begeisterung erklären. Der erste Sucher, durch den Tillmans schaute, gehörte nicht zu einem Fotoapparat, sondern zu einem Teleskop. Wenn er Landschaften fotografiert, ähneln diese nicht selten Ansichten eines wüsten Erdtrabanten.
Aufnahmen aus dem Familienalbum, mit Vater und Mutter, sind über die Räume verstreut und ziehen sich zugleich als roter Faden durch die Ausstellung. Im Rahmen der Tillmans’schen Ersatzfamilie wirken die Eltern wie herzlich empfangene Besucher aus der alten Welt. Von den betont beiläufigen, scheinbar privaten Porträts von Lady Gaga oder Anthony Fauci unterscheiden sie sich durch eine spontane Vertrautheit, die sich wohl nicht inszenieren lässt. Am schönsten ist gleichwohl die Aufnahme dreier Schuhe im familiären Dreieck, gerade, weil sie Intimität im distanzierten Blick finden.
In einem Video aus dem Jahr 1993, „Fahrt durch Remscheid“, sieht man die Straßen der Stadt über einen Mercedes-Stern hinweg. Dazu läuft im Autoradio Rave-Musik, die Wolfgang Tillmans damals schon über die Stadtgrenzen hinausgetragen hatte. Es lässt sich nicht leugnen: Hinter dem Ortsschild fängt das wahre Leben an.
„Wolfgang Tillmans – Ausstellung in Remscheid“, Haus Cleff, Cleffstraße, Remscheid, Mi.-So. 11-19 Uhr, bis 4. Januar 2026