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Zeit für LiteraturDie Kultur-Redaktion empfiehlt Buch-Klassiker

Lesezeit 9 Minuten
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Beim Ingeborg-Bachmann-Preis wird in diesem Jahr nicht gelesen, der Wettbewerb fällt aus.

Thomas Manns Zauberberg

Es klingt nach Ferien, nach Sommerfrische, nach einem unbeschwerten Ausflug in schöne Gefilde. „Ein einfacher junger Mann reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen.“

So beginnt Thomas Mann seinen Roman „Der Zauberberg“. Sein Reisender ist ein recht unbedarfter Zeitgenosse namens Hans Castorp, ein „philosophischer Taugenichts“, wie es heißt, Kaufmannssohn und angehender Schiffsingenieur, der seinem kranken Cousin Joachim droben in einem Lungensanatorium in Davos eine Stippvisite abstatten will. Es werden sieben Jahre daraus.

Wer sich dem „Zauberberg“ aus heutiger Perspektive nähert, liest das Buch vielleicht noch intensiver als Manns Zeitgenossen als europäischen Roman. 1924 erschien dieses 1000 Seiten starke Sittenbild in dünner Schweizer Luft erstmals, ein vielstimmiges literarisches Oratorium, in dem sich verschiedenste Landsmänner und -frauen zu Wort melden: der blasse Hans Castorp selbst, den es aus dem norddeutschen Flachland in die Höhe verschlagen hat, wo ihm bald ganz schwummrig zumute wird; sein italienischer Lehrmeister Lodovico Settembrini, bei dem sich intellektuelle Größe mit kleinem Geldbeutel paaren, sodass er im Berghof nur ein winziges Zimmer nach hinten hinaus bewohnt; dessen Antagonist, der unheimliche Jesuit Leo Naphta, der einer orthodoxen jüdischen Familie von der galizisch-wolynischen Grenze entstammt.

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Dann ein weiteres Gegenbild zu den beiden Geistesgrößen, die sich bald nicht allein mit Worten duellieren – der rotgesichtige Mynheer Pieter Peeperkorn, der seine banalen, abgerissenen Sätze mit bedeutsamem Armrudern einleitet; und schließlich Madame Chauchat, jenseits des Kaukasus geboren, aber überall zu Hause, leider auch im Herzen Hans Castorps, dem die Femme fatale im Lungensanatorium den Kopf verdreht. Wie eigentlich allen anderen Insassen und nicht zuletzt auch Oberarzt Hofrat Behrens.

Sie alle sind krank. Die Krankheit hat sich ihrer Körper und Köpfe bemächtigt, aber in Wahrheit ist die Zeit selbst, ist Europa von innen zerfressen, und nicht umsonst stürzen am Ende des Buchs alle von ihrem Zauberberg hinab in die Ebene, um im Ersten Weltkrieg einander abzuschlachten. Die Krankheit ist eine Metapher, oder vielmehr eine der zahlreichen Metaphern, die Mann in seinem Jahrhundertroman aufbietet. Eine andere ist der Schnee, der das gleichnamige berühmte Kapitel betitelt: Darin erlebt der so schrecklich normale und vom Weiß geblendete Hans Castorp einen Grenzgang an die Ränder des Wahnsinns, von denen ihn der strenge Aufklärer Settembrini so verzweifelt fernzuhalten versucht.

In gewisser Weise ist Castorp in all seiner Durchschnittlichkeit die leere Mitte des Buches, die alle anderen Figuren mit ihren Lebensweisheiten, Moralvorstellungen, erotischen Obsessionen und philosophisch-ideologischen Entwürfen zu erobern versuchen. Ein ziemliches Dummerchen, aber eines, das wissbegierig tut und leicht zum Zuhören zu verdammen ist. Einig scheint sich dieses Europa jedenfalls niemals werden zu können, das Mann im „Zauberberg“ entfaltet, und das er nach eigener Darstellung in seiner „abendländisch politisch-moralischen Dialektik“ zu zeigen versucht.

Zur Serie

Dieses oder jenes Buch wollten Sie schon immer lesen oder gar wiederlesen – kamen aber nie dazu? Die Coronakrise verschafft vielen von uns unverhoffte Muße, so dass sich der Wunsch erfüllen lässt. Endlich Zeit für Klassiker. Das Kulturressort gibt in den anstehenden Wochen Empfehlungen. (F.O.)

Zwischen Wissenschaftsgläubigkeit und Hedonismus, zwischen Absolutheitsfantasien und Relativismus feiert der Kontinent einen kranken Karneval auf dem Berghof, buchstäblich: Hinter Masken verborgen und vom Alkohol vernebelt lässt Hans Castorp im Fasching alle moralischen Bedenken fahren. Vor allem, was Madame Chauchat, die nachlässig an ihren Fingernägeln kaut, betrifft.

Worin äußert sich dabei Thomas Manns sprichwörtliche Ironie? Zweifellos in der Sprache selbst, in den Schilderungen des raunenden Beschwörers des Imperfekts, wie der Autor die Rolle des Erzählers einmal charakterisierte: In jeder Figur liegen Lächerlichkeit und Größe dicht beieinander – selbst in der unscheinbaren Hermine Kleefeld, die mit ihrer pfeifenden Lunge doch schließlich ganz und gar Hans Castorps zugegeben äußerst romantische Theorie bestätigt, dass Krankheit noch den bescheidensten Menschen vergeistige und veredele.

Doch die tiefere Ironie des „Zauberberg“ liegt eben in jener politisch-moralischen Dialektik, die das europäische Gebirge ins Bodenlose versinken lässt. Es ist eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft, die Mann im Berghof versammelt, dieser Nussschale, in die der ganze Kontinent passt: Man meint nicht, was man sagt, man sagt nicht, was man meint. Das Uneigentliche, das schwankende Bewusstsein, dass alles ganz anders sein könnte, als man dachte – das ist die Furcht, die man droben im Sanatorium zusammen mit dem Sauerstoff in sich aufsaugt.

Darin und in der konsequent auf Europa ausgedehnten Perspektive liegt die unverminderte Gültigkeit und Faszination von Manns „Zauberberg“. Gut hundert Jahre sind seit Erscheinen des Buches vergangenen – die Verunsicherung angesichts einer groß und größer gewordenen Welt, die damit einhergehende Sehnsucht nach dem nationalen Sprengel sowie die Verschwörungstheorie, dass dieser stets von außen bedroht ist, sie sind geblieben. Der „Zauberberg“ mag ein entrückter Ort sein. Aber er liegt mitten in Europa.

Frank Olbert

Albert Camus: Die Pest

Albert Camus: Die Pest

Um die sonnige Welt von Oran von einem auf den anderen Tag in einen düsteren Ort des Grauens zu verwandeln, genügt ein Wort, das der Gemeinde nach langem Zögern verkündet wird. Die Pest ist da, ausgebrochen in der nordafrikanischen Stadt am Meer, 200 000 Einwohner, alle gefährdet, vom Tode bedroht durch eine Epidemie. Insofern hat der Begriff, der die Gefahr beschreibt, eine andere Wirkung, als es der Ausbruch der Corona-Pandemie im Dezember hatte, weil damit kaum jemand etwas anfangen konnte. Der Dämon der Pest jedoch steht eindeutig für Tod und Verderben. Ansonsten ist es gleichwohl verblüffend und beklemmend, wie unglaublich klar Albert Camus in seinem Roman „Die Pest“ aus dem Jahre 1947 die gegenwärtigen Zustände antizipiert und bis ins Detail vorwegnimmt.

Es mag sein, dass Camus sein Buch, nunmehr ein Klassiker der Weltliteratur, als Parabel auf den Krieg geschrieben hat, dabei selbst gemachte Erfahrungen in einer Zeit des Grauens zwischen 1939 und 1945 verarbeitend und den Alltags eines Belagerungszustand schildernd, wie es Interpreten seines Werks nahelegen. Doch wenn man diesen Roman gerade jetzt wieder aus dem Regal nimmt, ihn noch einmal unter dem Eindruck der aktuellen Zustände liest, nimmt der Inhalt nicht nur den Atem vor lauter Parallelitäten, er legt auch nahe, dass er genau davon handelt, wovon der Titel kündet: Dem Leben in einer kranken Gesellschaft, machtlos gegen eine Plage, die sich über alle und alles legen kann.

Bei Camus kommen die Ratten aus den Löchern, blutend, verendend, und es dauert nicht lange, bis erste Menschen schwer krank werden – sie bekommen Fieber, die Lymphknoten schwellen zu Beulen an, dagegen gibt es weder Medizin noch Therapie. Und doch beschwichtigen die Bewohner, registrieren die Fälle zwar, nehmen die Bedrohung aber nicht ernst. „Sie glaubten nicht an eine Plage“, schreibt Camus. Und: „Unsere Mitbürger (…) vergaßen einfach nur bescheiden zu sein, und sie dachten, alles sei für sie möglich, was voraussetzt, dass Plagen unmöglich sind. Sie machten weiter Geschäfte, sie bereiteten Reisen vor. (…) Sie hielten sich für frei.“

Eine völlige Unterschätzung der Verhältnisse, wie sich herausstellt. Der Tod nähert sich langsam und holt sich die Menschen schließlich vieltausendfach, aus der Beulen- wird die Lungenpest und alles wird noch einmal schlimmer. Camus liefert auch eine Debatte der Ärzte, jener der Virologen von heute ähnlich, die zwischen Wir-müssen-handeln bis zu Erst-mal-abwarten changiert. Die Maßnahmen der Hygiene, der Isolierung, der Quarantäne treffen zunächst – wie aktuell – auf traumhaftes Wetter, das die Leute nach draußen treibt, hinein in die Katastrophe der allgemeinen Infektion. Später wird die Stadt abgeriegelt, werden die Maßnahmen schärfer, ein Ausgehverbot gehört dazu, ein Stadion und weitere Lager werden mit Menschen gefüllt, die Kontakt zu Kranken hatten. Doch die Pest verbreitet sich immer weiter.

Auf dem Höhepunkt der Epidemie reichen Friedhöfe für die Toten nicht aus, werden Massengräber ausgehoben, Krematorien angeworfen, die Toten in leeren Straßenbahnen aufgeschichtet auf ihre letzte Reise geschickt – und man sieht die vielen vom Militär in Norditalien in Lastwagen chauffierten Särge, die Eishallen für Leichen in Spanien, die Kühlwagen für die Toten in den USA vor sich.

Camus entsendet in seinem Roman eine Gruppe von in einem Sanitätstrupp organisierten Altruisten in den Kampf gegen das Bakterium, angeführt von dem Arzt Bernard Rieux, der sich später als Chronist der Ereignisse von Oran zu erkennen gibt. Er handelt, besucht die Kranken, agiert bis zur Selbstaufgabe, schläft kaum, kämpft gegen das Böse, will heilen und kann doch nur Symptome lindern, wenn überhaupt. Die Gruppe um Rieux führt das Prinzip der Solidarität in Oran ein, helfen um des Helfens willen, gemeinsam kämpfen gegen die unsichtbare Bedrohung.

Die Helfenden sind immun gegen die Diskussion, die über die Dauer der strikten Maßnahmen entbrennt, unter denen alle leiden, vor allem die Geschäfte. Auch dies eine Parallele zur Jetzt-Zeit. Bei Camus kommt gar „das gesamte Wirtschaftsleben zum Erliegen und verursachte so eine erhebliche Zahl von Arbeitslosen“.

Endlich ein Serum, ein unsicheres, keiner weiß, wie es wirkt, zunächst vergeblich ausprobiert an einem Kind, dessen geschildertes Leid und Sterben die Lesenden sehr fordert. Und an aktuelle Bilder aus den Intensivstationen in Frankreich oder Italien erinnert.

Doch plötzlich sinkt die Zahl der Sterbenden, die Pest verschwindet Ende Januar aus Oran. Die Tore der Stadt werden wieder geöffnet. Doch ist ihre Gesellschaft wirklich geheilt? Die Menschen leugneten, schreibt Camus, „dass wir jenes benommene Volk gewesen waren, von dem tagtäglich ein Teil, in den Rachen des Ofens gestopft, in schmierigem Rauch aufging, während der andere Teil in den Ketten der Ohnmacht und Angst wartete, dass die Reihe an ihn kam“.

Camus, der Philosoph und Chronist des Absurden, der Nobelpreisträger für Literatur, der er später wurde, führt seine Betrachtungen zur Pest in Oran mit einem berühmten Satz dem Ende entgegen. Dass man nämlich in Plagen lerne, „dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt“. Indem man sich bemühe, ein Arzt, ein Heiler der Zustände, zu sein, werde sich die Situation schon bessern. Aber, und somit schließt „Die Pest“, auch im Freudentaumel über die Beseitigung der aktuellen Plage und Seuche dürfe eben nicht vergessen werden, dass „der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet“. Und das Corona-Virus? Es heißt, es mutiere schon.

Stephan Klemm