Zu Charles Dickens’ 150. TodestagWarum wir heute alle Dickensianer sind
Das baufällige, verdreckte Haus am Ufer der Themse ist von Ratten überrannt. Der junge Charles lauscht ihrem Quietschen und den Schlurfgeräuschen, die ihm verraten, dass sich mal wieder eines der Tiere vorgenommen hat, die Treppe zum Zählhaus im ersten Stock zu erklimmen.
Dort hockt der Zwölfjährige in einer Nische, sitzt und beklebt Töpfe schwarzer Schuhwichse mit Etiketten, zwölf Stunden lang, jeden Tag von Montag bis Samstag. Am Sonntag besucht er seine Familie, Vater, Mutter und sieben Geschwister, im Schuldgefängnis von Marshalsea, auf der anderen Seite des Flusses.
Bis dahin war sein Leben nahezu unbekümmert verlaufen. Ohne dass sich seine Eltern groß um ihn kümmerten, hatte das Kind in Chatham eigene Abenteuer verfolgt, strolchte in der Hafenstadt herum oder las von den tolldreisten Erlebnissen junger Burschen in den Schelmenromanen Tobias Smollets und Henry Fieldings. Er weiß es noch nicht, aber es ist die glücklichste Zeit seines Lebens.
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Doch der Autor Charles Dickens, der Schöpfer so liebenswert schrulliger wie zutiefst verkommener Charaktere, der Mann, der London als phantasmagorischen Sündenpfuhl und sich selbst als größte – „unvergleichliche“, wie er über sich selbst sagt – Berühmtheit seiner Zeit erfindet, der wird in den dunklen Jahren seiner frühen Jugend im ersten Stock des baufälligen Hauses an den Hungerford Stairs geboren, wo er sitzt und schuftet und sich wundert „wie ich in einem solchen Alter nur so leichtfertig weggeworfen werden konnte“.
Er hat sich am eigenen Zopf aus dem Morast des Themse-Ufers gezogen, hat sich aus seiner Nische herausgeschrieben, zuerst als Rechtsanwaltsgehilfe, dann als Gerichts- und Parlamentsreporter und zuletzt als Autor von Fortsetzungsromanen. In denen wandelt er das eigene erlittene Unrecht zur großen Anklage gegen die sozialen Missstände seiner Zeit um. Ohne zu predigen, eher in einer Art kybernetischem Kreislauf mit seinem schnell wachsenden Lesepublikum, an dessen Empathie und Gewissen er rüttelt. Nirgendwo kann der Leser Ungerechtigkeit tiefer empfinden als bei Dickens. Die Stärke der Rückkopplungen bestimmt dabei durchaus auch den weiteren Verlauf seiner Geschichten.
Seine dramatischen Lesungen – um ein Haar wäre der junge Dickens Schauspieler geworden, eine Erkältung verhinderte ein bereits veranschlagtes Vorsprechen – zogen die Menschen in Massen an, wie man sie eher mit den Rockkonzerten des folgenden Jahrhunderts assoziiert. Der Autor las weniger, als dass er seine Figuren einer Séance gleich in seinen Körper fahren ließ und seine Fans so zu hysterischen Gefühlsausschüttungen trieb.
Die Königin ist gefesselt
Selbst die junge Königin Viktoria vermochte der Autor der „Pickwick Papers“ und des „Oliver Twist“ zu fesseln, sie blieb ihr Leben lang sein prominentester Fan und lud ihn ebenso beharrlich in ihren Palast ein, wie der überzeugte Republikaner ihre Einladungen ausschlug – erst drei Monate vor dem Schlaganfall-Tod am 9. Juni 1870 ließ sich Dickens zu einem Besuch seiner Königin herab. Seitdem hält sich beharrlich das Gerücht, dass die Regentin die einzige Person sei, die wisse, wer der Mörder von Edwin Drood ist, dem Titelhelden von Dickens’ letztem, unvollendeten Roman.
Gelesen wird er bis heute, die späten Meisterstücke „Bleak House“ und „Große Erwartungen“ ebenso wie leichtfüßigere Frühwerke à la „Nicholas Nickelby“ und selbstredend „Eine Weihnachtsgeschichte“. Selbst wer ihn nicht liest, weiß, wer Ebenezer Scrooge, Uriah Heep, oder Miss Havisham ist.
Und nicht zuletzt lebt Charles Dickens auch 150 Jahre nach seinem Tod im Alter von 58 Jahren als Erfinder des modernen seriellen Erzählens weiter, der bis heute – nun eben in Form von TV-Serien – populärsten Kunstform: Wir sind alle Dickensianer.