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Zum Tod von Alice MunroEine mitfühlende Beobachterin in der Räuberhöhle unseres Alltags

Lesezeit 3 Minuten
Alice Munro sitzt vor einer weißen Holzwand.

Die kanadische Autorin und Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro ist im Alter von 92 Jahren gestorben.

Alice Munro war eine Meisterin der kurzen Form. Über eine Autorin, die nicht viele Worte brauchte, um uns zu berühren.

„Fiona lebte im Haus ihrer Eltern, in der Stadt, in der sie und Grant zur Universität gegangen waren. Es war ein großes Haus mit einem Erker, das Grant gleichermaßen luxuriös wie unordentlich vorkam, mit Teppichen, die über die Böden krochen und Tischen, in die sich Tassenränder gebissen hatten.“ So beginnt eine der schönsten und berühmtesten Kurzgeschichten von Alice Munro, „Der Bär kletterte über den Berg“, und man erkennt bereits nach wenigen Worten, wie großartig sich die Autorin darauf versteht, eine Wirklichkeit zu errichten, in der man sich zu Hause fühlt. Was in diesem Fall ein besonderer Kunstgriff ist, denn während uns Fionas Heim immer vertrauter vorkommt, wird es der an Alzheimer erkrankten Heldin auf unerbittliche Weise immer fremder.

Ich hatte schlicht keine Zeit für große Würfe
Alice Munro

Meist genügten Alice Munro wenige Striche, um uns ein lebendiges Bild ihrer Figuren vor Augen zu stellen. Als sie 2013 den Nobelpreis für Literatur erhielt, lobte das Komitee die Klarheit ihres Stils und die psychologische Tiefe ihrer auf das Wesentliche der Alltagserfahrung reduzierten Geschichten. Dazu passte, dass Munros Entscheidung für die kurze Form einen lebenspraktischen Kern besaß. In den ersten Jahren ihrer Karriere konnte die Ehefrau und dreifache Mutter nur schreiben, wenn die Kinder schliefen. „Ich hatte schlicht keine Zeit für große Würfe“, so Munro, die immer aufs Neue bewies, dass auch kleine Würfe eine ganze Welt enthalten können.

Gerne stellten wir uns vor, wie Munro, die 1931 geboren wurde, im Alter von 20 Jahren heiratete und 1968 ihren ersten Erzählband veröffentlichte, sich die Zeit fürs Schreiben zusammenstahl und sich inmitten des Familienlebens eine Räuberhöhle reservierte. Hier bewahrte sie die kleinen und großen Erfahrungsschätze auf, die sie dann zu großen kleinen Geschichten formte. Oft handeln diese von moralischen Konflikten: zwischen den Generationen, Eheleuten, Liebenden. Es sind Biografien, die nichts Gezwungenes an sich haben, selbst wenn Munro sie an dramatischen Scheide- und Wendepunkten erhellt.

In ihrer Heimat wurde Alice Munro bereits vor ihrem Nobelpreis mit Tschechow verglichen

In ihrer kanadischen Heimat wurde Alice Munro bereits vor ihrem Nobelpreis mit Tschechow verglichen und vom Publikum geliebt. 2009 erhielt sie den renommierten Man Booker International Prize für ihr Lebenswerk, und doch gehörte sie eher zu den leisen Stimmen des Literaturbetriebs. Gehört wurde sie trotzdem. Sämtliche ihrer Bücher wurden ins Deutsche übersetzt und „Der Bär kletterte über den Berg“ (aus dem Sammelband „Himmel und Hölle“) unter dem Titel „An ihrer Seite“ mit Julie Christie in der Hauptrolle verfilmt. Es ist weit mehr als die Geschichte eines langsamen Verschwindens in der Krankheit: Munro erzählt von der Bedeutung der Erinnerung für das Glück und von den Opfern, die man gewillt ist, einem geliebten Menschen zu bringen.

Nachdem Fiona ins Heim gekommen ist, leidet Grant, seit mehr als 40 Jahren ihr Ehemann, vor allem darunter, dass er mit der Erinnerung an bessere Tage bald allein sein wird. Allerdings kann ihn nichts auf die Wendung vorbereiten, die ihn bei seinem nächsten Besuch erwartet: Fiona hat ihn vergessen und sich mit einem anderen Alzheimer-Patienten angefreundet; die beiden sind einander so innig ergeben, als wären sie das alte Ehepaar. „Ich glaube, es ist nichts, worüber man sich sorgen müsste“, sagt Fiona zu Beginn von Munros bewegend unsentimentaler Geschichte. „Ich verliere einfach den Verstand.“ Jetzt ist die Schöpferin dieser unsterblichen Figur von uns gegangen. Alice Munro wurde 92 Jahre alt.