Mit nur 61 Jahren ist Volksbühnen-Intendant René Pollesch gestorben. Noch vor 14 Tagen hatte er Premiere gefeiert. Unser Nachruf.
Zum Tod von René PolleschDer Theatermacher, der unser Unglück am besten verstand
Das neue Jahrtausend war kaum angebrochen, globale Pandemien galten noch als Stoff für Science-Fiction-Romane, da hatte René Pollesch mit seiner „Heidi Hoh“-Trilogie bereits das Drama der modernen „Telearbeiterin“ geschrieben, deren Privatleben zur allgegenwärtigen Produktionsbereitschaft geschrumpft ist: „Aber offline bin ich zu Hause.“
Das war einer der ersten Pollesch-Sätze, die man sich in Holz brennen und über dem Home-Office-Schreibtisch aufhängen wollte. Etliche weitere sollten folgen, am Ende soll der Theatermacher rund 200 Stücke geschrieben haben. Auch wenn kaum etwas davon nachzulesen ist, weil es ihm nicht um Autorenschaft oder den von ihr fixierten Text ging, letzterer war nur Material für die gemeinsame Arbeit mit den Bühnenbildnern und Bühnenbildnerinnen, mit den Darstellerinnen und Darstellern seines Vertrauens, auch mit Souffleur oder Souffleuse. Bis auf wenige Ausnahmen inszenierte er seine Stücke selbst und gab sie nicht zum Nachspielen frei.
Zur Todesursache von René Pollesch gab es zunächst keine Angaben
Dieses Ende kam „plötzlich und unerwartet“, so formulierte es die Berliner Volksbühne, deren Intendanz er 2021 übernommen hatte, in einer am Montagabend verschickten Rundmail. In deren Kürze konnte man den Schock der Nachricht spüren: Am Morgen des 26. Februar ist René Pollesch im Alter von 61 Jahren gestorben. Zur Todesursache gab es zunächst keine Angaben. Erst 14 Tage zuvor hatte der Schreibwütige am Rosa-Luxemburg-Platz seine letzte Premiere gefeiert: „ja nichts ist okay“ hieß das Solo für Fabian Hinrichs, ein Nullpunktstück von Beckett’scher Daseinsverzweiflung, im Gewand einer Boulevardkomödie: „Ich finde die wenigsten Menschen sind für das 21. Jahrhundert geeignet“, seufzt Hinrichs.
Nichts ist mehr okay, möchte man beipflichten, jetzt, wo die wachste, unterhaltsamste und oft auch erschütterndste Stimme des deutschsprachigen Theaters zum Schweigen gebracht wurde, einfach so, mitten im Diskurs. Er wolle auf die Bühne bringen, was ihn in seinem Leben beschäftigt, verriet er dem „Spiegel“ in einem Interview aus den Nuller Jahren. Wer den aktuellen Pollesch-Abend sah, wusste, mithilfe welcher Theorietexte Pollesch gerade das eigene Leben und Leiden auslotete, ob mit Deleuze oder Donna Haraway, mit Foucault, Agamben oder Katja Diefenbach.
Unweigerlich beugte man sich dann auf den Rängen nach vorne, aus Angst, eine Anspielung zu verpassen, oder beim Versuch, dem rasenden Monolog von Martin Wuttke, Kathrin Angerer oder Sophie Rois zu folgen, gedanklich aus der Kurve getragen zu werden. Das passierte unweigerlich, denn Pollesch verfasste keine Lehrstücke.
Sinnbrüche, Abschweifungen, Filmzitate und vor allem Kalauer waren Teil des Konzepts, die Akteure sollten auf glatten Textflächen gewaltig ins Rutschen geraten, und die Bühnenbilder – eine Geisterbahn, ein Bordell, ein riesiger Wal mit offenem Maul oder der ganze Friedrichstadtpalast als Revue-Rahmen – verrieten den Attraktionscharakter der Aufführungen. Selten überschritten sie die 90-Minuten-Grenze und überforderten trotzdem so sehr wie ein Fünf-Stunden-Abend von Frank Castorf. Nur wenn mal gar nichts mehr ging, rettete ein passgenau eingesetzter Popsong oder ein heraus gebrülltes „Scheiße“, manchmal auch ein schlichtes „Ahhh“.
Meistens verließ man einen Pollesch-Abend taumelnd und tief ergriffen zugleich, mit hundert neuen Erklärungen fürs eigene Unglück im Kopf, die sich dann unweigerlich in Luft auflösten wie intellektuelle Zuckerwatte. Nicht weil René Pollesch, was ihm manche vorwarfen, an der Oberfläche verharrte, sondern weil er wusste, dass die Oberfläche alles war, was uns geblieben ist. Und dass der Trost der Reflexion allein noch nichts ändert.
Diedrich Diederichsen lobte Pollesch als einzigen Theaterregisseur, der seine Zeit erfasst hatte
Blieb in Ermangelung der Revolution nur das Hungern auf die nächste Pollesch-Premiere. Und die schlagkräftigen Titel des überbordenden Œuvres: „Stadt als Beute“, „Die Welt zu Gast bei reichen Eltern“, „Neues vom Dauerzustand“, „Du hast mir die Pfanne versaut, du Spiegelei des Terrors“, „Calvinismus Klein“, „Die Kunst war viel populärer, als ihr noch keine Künstler wart!“, „Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte“ und natürlich „Ich schau’ dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!“. Manchmal reicht auch ein simples „Ich kann nicht mehr“ oder ein „Und jetzt?“.
Pollesch, schreibt Diedrich Diederichsen in seinem kommenden Essayband „Das 21. Jahrhundert“, sei vielleicht der einzige Regisseur im deutschsprachigen Theater, der versuche, den fundamentalen Bruch ins Theaterdenken einzuführen, den der Übergang von einer Gehorsams- und Disziplinarkultur in eine Ökonomie der forcierten Selbstverwertung bedeute. Weshalb sich seine Spielenden gar nicht erst als von gesellschaftlichen Verhältnissen gebeutelte Einzelcharaktere aus dem bekannten Theater-Kanon ausgaben – die „Ölspur einer kohärenten Figur, auf der man dann so Schlitten fährt im Repräsentationstheater“, schimpfte Pollesch gegenüber der „Zeit“ –, sondern als ihr nicht-fiktives Selbst auftreten, aus dem das Textkollektiv spricht. Das wirkte umso befreiender, desto mehr die Zuschauenden gezwungen waren, außerhalb des Theaters Rollen zu übernehmen, mit denen sie sich als High Performer den Konzernen andienten.
Der Theatermacher selbst entstammte, wie man so sagt, einfachen Verhältnissen, hatte aber das Glück, dass keine 40 Kilometer von seinem Geburtsort im hessischen Friedberg, das Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaften eröffnete. Pollesch gehörte zum ersten Jahrgang, der dort unter Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann studierte, George Tabori und Heiner Müller gehörten zu seinen Lehrern. Gießen prägte das postdramatische Theater, das keine Stars mehr kennen wollte.
Doch René Pollesch war sein schillerndster Protagonist. Erste Erfolge feierte er in Luzern und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, als ihn Castorf daraufhin die Außenspielstätte im Prater überließ, verwandelte Pollesch diese ins heimliche Kraftzentrum der Volksbühne. Als er sich Jahre später der Presse als neuer Leiter des großen Hauses vorstellte, sagte er, man müsse sich keine Sorgen machen, er sei nie allein.
Aber wir sind es nun und wir machen uns Sorgen. Nichts ist okay. Und jetzt?