Lena Gilhaus‘ Buch über Verschickungskinder der Nachkriegszeit hat bei Leserinnen und Lesern Erinnerungen geweckt – gute wie schlechte.
LeserbriefeNicht alle Kinderkur-Erfahrungen waren schlecht

Solebadanwendung für Verschickungskinder
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Quälerei im Kinderkurheim
Bad Rothenfelde ist mir bis heute in besonderer Erinnerung. Vor allem das Kinderkurheim Sankt Elisabeth. Erbrochene, gekochte Milchspeisen wurden mir dort mit Gewalt wieder eingetrichtert. Essen zu erbrechen wäre eine Sünde von mir, hieß es immer. Bis heute ertrage ich leider keine gekochten Milchspeisen. Das war kein Kinder-Kurheim, sondern eine Kinder-Quälanstalt! Klaus-Wilhelm Kratz Köln
Wunderschöne Zeit im Kinderkurheim
Im Interview mit Lena Gilhaus werden nur negative Erlebnisse in Kurheimen während der Nachkriegszeit geschildert. Das waren sicher traurige Erlebnisse. Aber es gab auch Heime, die gute Arbeit geleistet haben. Das Kriegsende haben meine beiden Geschwister und ich in Schlesien erlebt und sind im Spätsommer 1945 wieder in unsere Heimatstadt Berlin gezogen. Ich war 12 Jahre alt, als in Berlin die Blockade begann. Daraufhin hat unser Patenonkel uns drei Kinder im Sylter Kinderheim in Westerland untergebracht. Meine Schwester und ich gingen dort zur Schule.
Wir erlebten eine wunderschöne Zeit in diesem Heim. Die Betreuerinnen, die wir „Tanten“ nannten und die zwischen 24 und 30 Jahre alt waren, waren nett bis lieb zu ihren Kurkindern, die hauptsächlich aus dem Ruhrgebiet stammten. Wir kamen ausgehungert dorthin und haben uns bestens erholt. Manchmal gab es Wettessen unter den Jungen. Wir konnten in den Dünen spielen und sangen im Chor. Und es gab Tischtenniswettbewerbe, bei denen ich einmal eine „Tante“ geschlagen habe, was ihr allerdings nicht gefiel.
Die Kindergruppen haben im Wettbewerb Sandburgen am Strand gebaut, die auch prämiert wurden. Warum wird nur negativ berichtet? Ich habe ähnlich positive Erinnerungen an ein Kinderheim in Mittenwald, wo ich mich drei Jahre aufhielt und schließlich in Garmisch-Partenkirchen das Abitur machte. Günter Becker Köln
Verschickungs-Trauma wirkt bis in die nächste Generation
Meine Mutter, Jahrgang 1931, war in einem Kinderlandverschickungslager in Tschechien. Sie war traumatisiert durch die lange Trennung von ihrer Familie. Mir ist nicht bekannt, dass sie misshandelt oder Opfer sexueller Übergriffe geworden wäre, aber allein die Trennung von ihrer Familie hat sie nie ganz verarbeitet. Ihre von Sehnsucht und Heimweh geprägten Briefe an ihre Eltern wurden nur knapp und wenig einfühlsam beantwortet, und ich habe den Verdacht, dass da emotional etwas in ihr gestorben ist.
Nie wieder hat sie emotionale Briefe geschrieben oder manche Emotionen auch nur an sich herangelassen. „Emotional“ war für sie fast ein Schimpfwort. Natürlich haben auch mein Vater und ich unter ihrer seltsamen Distanziertheit gelitten. Dazu kam, dass sie wieder und wieder vom „Kinderlandverschleppungslager“, wie sie es nannte, erzählte, sodass mein Vater und ich schon die Augen verdrehten, wenn das Thema zum gefühlt 1000. Mal hochkam.
Wie so viele Eltern wollte sie wohl ihrem Kind nicht antun, worunter sie selbst extrem gelitten hatte, sodass sie mich nur widerwillig auf Klassenfahrten mitfahren ließ und ansonsten nie auch nur für ein paar Tage von zu Hause wegließ, sodass es für mich wie eine Befreiung war, als ich mit 19 ausziehen konnte. In einer Gruppentherapie wurde mir erst bewusst, wie sehr ich, Jahrgang 1964, vom Trauma meiner Mutter in Mitleidenschaft gezogen worden war.Anne Koch Wesseling
„Sehr wohlgefühlt in einer Kur in Bayern“
Lena Gilhaus hat in ihrem Artikel nur die negative Seite von Kinderkuren aufgezeigt. Ich kann aus meiner Kindheit dagegen nur Positives von einer Kur in den 50er Jahren in Bayern berichten. Wir waren in einem von Nonnen geführten Haus untergebracht und wurden liebevoll, wenn auch streng, betreut. Es wurde Rücksicht auf die Essempfindlichkeiten von uns Kindern genommen. Ich erinnere mich, dass ein Junge absolut keine Quarkspeise essen mochte, die es wöchentlich einmal gab. Er musste sie zwar einmal essen, aber nachdem er sie wieder erbrochen hatte, brauchte er sie nicht mehr zu essen.
Ich habe mich in den drei Wochen sehr wohlgefühlt. Es hat gewiss schlecht geführte Kinderheime gegeben, aber nicht alle waren schlecht. Wir neigen leider dazu, negative Erlebnisse besonders ausführlich darzustellen und von guten Erlebnissen nur wenig zu sprechen. Aber jede Medaille hat zwei Seiten, das gilt auch für Kinderkuren der Nachkriegszeit. Christel Franke Gummersbach
Im Kinderheim schikaniert
Was die Autorin Lena Gilhaus so treffend über Kinderkuranstalten schreibt, habe ich als Siebenjährige 1937/38 im Kinderheim in der Elisabeth-Breuer-Straße in Köln-Mülheim genau so erlebt. Das Heim wurde von katholischen Nonnen geleitet. Ich wurde sofort von meiner drei Jahre älteren Schwester getrennt und wenn Freigang auf dem großen Hof war, durfte ich nicht zu ihr gehen.
Ich musste auf die Toilette gehen, wann die Schwestern es bestimmten. Ich lag schon im Bett, musste dringend zur Toilette, meldete mich, aber ich durfte nicht gehen. In der Nacht nässte ich mein Bett ein und wurde sehr ausgeschimpft. Ich habe unter der Trennung von meiner Schwester im Heim sehr gelitten und weinte viel. Meiner Mutter wurde gesagt, ich sei aufsässig, trotzig und böse, doch so kannte sie mich nicht. Am Krippenspiel durfte ich nicht teilnehmen, weil meine Eltern geschieden waren. Ein anderes Mädchen durfte nicht teilnehmen, weil sie unehelich war.
1938 fand meine Mutter eine Stelle als Buchhalterin und konnte eine kleine Wohnung für uns mieten. Durch die Renovierung der Wohnung verzögerte sich der Einzug und das teilte meine Mutter dem Heim mit. Man rief meine Schwester und mich und erklärte uns, meine Mutter würde uns nicht aus dem Heim holen, wir müssten noch lange dort bleiben. Als meine Mutter uns zwei Tage später abholen kam, war kein Koffer für uns gepackt. Das war reine Schikane von der Heimleitung. Gertrud Odenthal Köln
Gute Erholung in der Kinderkur
Ich bin in Knapsack geboren, mein Vater arbeitete bei Höchst und ich verbrachte sechs Wochen auf Wangerooge, drei Wochen im Odenwald und drei Wochen im Schwarzwald. Natürlich gab es nicht immer das Essen, das man gerne mochte. Aber vielleicht sollte man auch einmal berücksichtigen, in welcher Zeit das geschah: Es gab nicht wie heute an jeder Ecke einen Döner- oder Pizza-Laden, und es war nicht immer alles vorhanden. An der See gab es halt viel Fisch und unter anderem auch Milchspeisen. Nicht jedermanns Sache, aber auch nicht so, dass man davon krank wurde.
Wir haben in Gemeinschaftsräumen geschlafen und abends gab es Geschichten von der See oder auch mal Gespenstergeschichten. Wir durften zur Toilette, wann immer es nötig war. Im Großen und Ganzen haben wir uns erholt. Und für die Kneippbäder, die wir bekommen haben, zahlen Menschen heute viel Geld. Heike Ritter Erftstadt