Sollte man die sozialen Medien verlassen? Unser Autor glaubt nicht, dass Flucht der Sache dienlich ist.
Abschied von X?Die sozialen Medien sind wir
Es sei Zeit, dass Facebook und Instagram zu ihren Wurzeln zurückkehren. Erklärte Mark Zuckerberg vor wenigen Tagen in einem kurzen Hochkant-Video. Wo diese Wurzeln liegen? In der freien Meinungsäußerung. Wer den Film „The Social Network“ gesehen hat, weiß, dass Zuckerberg verklärt: Ursprünglich hatte er Facebook als Bewertungssystem für das Aussehen seiner Kommilitoninnen programmiert.
Natürlich liefert der Meta-CEO in seinem Video auch eine Erklärung dafür, warum sich die sozialen Netzwerke seines Konzerns überhaupt von der freien Meinungsäußerung wegbewegt haben. Schuld seien übergriffige Regierungen und die traditionellen Medien. Die hätten ihn im Verein immer weiter dazu gedrängt, Inhalte zu zensieren.
Zuckerbergs Ansprache ist eine Lektion in Trump-Sprech. Wer „Zensur“ durch „Faktenprüfung“ und „freie Meinungsäußerung“ durch „Hassrede“ und „Propaganda“ ersetzt, dürfte näher an der Wahrheit liegen. Nach dem Sturm aufs Kapitol vor vier Jahren hatte Zuckerberg noch Donald Trumps Facebook-Account gesperrt. Jetzt der Kotau vor dem Rechtspopulisten. Und die Aussicht auf unwidersprochene Lügen und perfide Propaganda, auf einen Marktplatz der Hetze und Menschenverachtung.
Soziale Medien lassen sich nicht einfach wegdenken
Wenn das die Wurzeln von Facebook sind, ist es dann nicht höchste Zeit dem sozialen Netzwerk – und auch allen anderen wie Instagram, X, Threads und Tiktok – den Rücken zu kehren? Ich ahne, was sie sagen wollen: Ich nutze sowieso keine sozialen Medien. Worauf ich antworten würde: schön für sie. Aber es geht ja um die knapp fünf Milliarden Menschen, die es tun.
Würden die sich angesichts der angekündigten Deregulierung bald tatsächlich von Facebook und Co verabschieden, hätte sich das Problem mit den sozialen Medien von selbst erledigt. Das wird jedoch nicht passieren, jedenfalls nicht in naher Zukunft. Weil sich die sozialen Medien selbstredend nicht mehr aus unserer Welt wegdenken lassen. So kommunizieren wir, so erreichen uns Neuigkeiten und so werden sie generiert, so bilden sich Meinungen, Freundschaften, Gemeinschaften, so lassen wir Dampf ab.
Die sozialen Medien sind wir. Sie befriedigen unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Unterstützung, sind eine wichtige Quelle unseres Selbstwertgefühls – und leider auch oft ein Spiegel unserer Kleinlichkeit und Hässlichkeit. Dagegen helfen Filter und Faktenchecks bislang nur bedingt: Verschwörungsideologien, verächtliche Kommentare und Falschbehauptungen waren schon ein Problem, bevor Twitter zu X wurde oder Zuckerberg auf Trump-Kurs umschwenkte. Sie bleiben ein Problem, trotz des Digital Services Act (DSA), der seit September 2023 in der EU den großen Plattformen und Suchmaschinen erheblich strengere Auflagen vorschreibt als das zuvor der Fall war.
Mit anderen Worten: Für uns Europäer gilt quasi das genaue Gegenteil von dem, was Zuckerberg in seinem Video verkündet hat. Und trotzdem hat er recht, wenn er davon spricht, dass es keine optimale Lösung im Abwägen zwischen Kontrolle und Laisser-faire gibt. Ich weiß, das klingt nach Fatalismus. Als wären wir und unsere Demokratie den Silicon-Valley-Milliardären auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sind wir nicht. Aber es ist gar nicht so einfach, neue Mehrheiten auf sympathischeren Plattformen zu versammeln. Die meisten User, die den X im Laufe der Musk'schen Zumutungen verlassen haben, sind nicht zu den „korrekten“ Alternativen Mastodon oder Bluesky gewechselt, sondern zu Metas Kurznachrichtendienst Threads, also von einem Möchtegern-Oligarchen zum anderen.
Am Ende werden weder Ausstieg noch Boykott den Wandel bringen, sondern technische Innovationen. Politisch manövriert Zuckerberg geschickt: Unter der Biden-Regierung hat er hinter den Kulissen darauf hingearbeitet, die Kurzvideo-Plattform Tiktok, seinen gefährlichsten Konkurrenten, aus den amerikanischen App-Stores zu verbannen. Jetzt scheint er sich an Elon Musks Rockzipfel zu hängen – spart dabei aber vor allem teure Fact-Checking-Teams ein.
Gleichzeitig – darauf weist die Datenjournalistin Julia Angwin in der „New York Times“ hin – sind sämtliche Innovationen seines Konzerns gescheitert, sein Metaverse ist ein kostspieliger Flop, im KI-Rennen läuft er hinterher. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein Konkurrent mit besseren, weniger toxischen Angeboten auftaucht. Dann werden die Nutzer von ganz alleine wechseln.