Ein Anschlag auf die 1000 Jahre alte Kirche in Wissen/Sieg beraubt die Bewohner der Kleinstadt eines bedeutsamen Teils ihres Lebens.
Kolumne von Hanns-Josef OrtheilBrandstiftung auf Kirche im Westerwald
In die katholische Pfarrkirche „Kreuzerhöhung“ meines westerwäldischen Heimatorts Wissen/Sieg, der zum Kölner Erzbistum gehört, ist in der Nacht zum 10. Februar eingebrochen worden. Der oder die Täter haben die Kirchenbänke zusammengerückt und in Brand gesetzt.
Große Teile der Inneneinrichtung sind zerstört, der alte Hochaltar aus dem 17. Jahrhundert ging in Flammen auf, die einzigartigen Deckenfresken des Kölner Dommalers Peter Hecker wurden durch die Brände derart beschädigt, dass sie wahrscheinlich nicht mehr restauriert werden können.
Noch am Abend der Tat kamen die Menschen auf dem Kirchplatz zu einer Schweigeandacht zusammen. Bei solchen Gelegenheiten wird vielen erst bewusst, wie stark die Identität der kleinen, kaum 10 000 Einwohner zählenden Stadt durch die über tausend Jahre alte Kirche, ihre Bilder, Figuren und Altäre geprägt wurde. Die Trauer reagierte nicht nur auf den Verlust unwiederbringlicher kultureller Werte, sondern stärker noch darauf, dass den Menschen ein bedeutsamer Teil ihres Lebens und ihrer Vergangenheit genommen ist.
Viele erinnerten sich an die starken Momente und Emotionen, die sie mit dieser Kirche verbunden hatten. Große öffentliche und private Feiern hatten sie dort erlebt, die Kirche war nicht nur ein religiöser Gottesraum, sondern auch ein intimer Raum des eigenen Sprechens und der eigenen Erfahrungen gewesen. Jetzt ist dieser Raum nicht mehr zugänglich, die Restaurierungsarbeiten werden noch lange dauern.
Die immer wiederkehrenden, ratlos machenden Fragen kreisten um die zentrale: Wer macht so etwas? Was treibt Menschen an, sich derart an geheiligten Orten zu vergehen? Darauf findet man keine Antwort, denn die Taten fallen aus allen Bezügen, die man mit rationaler Vernunft noch begreifen könnte.
So sprachen viele Trauernde auch davon, dass man es anscheinend mit Aktionen zu tun habe, die auf schwere psychische Störungen verwiesen. Störungen dieser Art konnten in letzter Zeit immer wieder beobachtet werden, sie führten zu Attentaten und schweren Vergehen, deren Motive oft bis heute nicht zu klären waren.
Nach der Pandemie und dem Beginn eines furchtbaren, ebenfalls mit Vernunft nicht zu verstehenden Krieges gehen durch die Gesellschaft offensichtlich Irritationen, die zu völlig abwegigen, plötzlichen und vernichtenden Taten führen. Sie machen vielen Angst, weil sie das Urvertrauen in Umgebungen und ruhige Zeitverläufe zerstören.
Stattdessen empfindet man eine nicht nachlassende, latente Bedrohung, die zu verstärkten Rückzügen ins Privatleben führen kann. Wenn diese Rückzüge keine krankhaft übertriebenen Züge annehmen sollen, müssen jene Kräfte aktiviert werden, die von starken Gemeinschaftserlebnissen ausgehen.
Gerade deshalb war es so wichtig, dass die Einwohner der kleinen Stadt am Abend nach der Tat zusammenstanden, um sich zu beweisen, dass die Angst schwächer wird, wenn der Nachbar genauso hilflos und ohnmächtig von ihr spricht wie man selbst. Es gibt eine Trauer, die von innerer Leere und Entsetzen bestimmt ist. Es gibt aber auch andere Formen von Trauer, solche, die sich zu den guten Stunden von früher bekennt und jene Empfindungen abruft, die man mit ihnen verbindet. Selbst die schlimmsten Taten können solche Momente der inneren Besinnung nicht abwürgen, sondern fordern sie gerade heraus.
Deshalb denke ich schon jetzt an den Tag, an dem wir in der Kirche „Kreuzerhöhung“ eine Auferstehung zweiter Art feiern werden. Nicht die von Ostern, sondern die der Menschen, denen man ihre Vergangenheit nach dem Ende der Restaurierung zurückgeschenkt haben wird.
Hanns-Josef Ortheil ist Roman- und Sachbuchautor. In seiner Kolumne „Menschen aus der Nähe“ für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ befasst er sich damit, wie Geschehnisse aus aller Welt wahrgenommen und gedeutet werden. Weitere Texte finden Sie auch in Hanns-Josef Ortheils Blog.