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Kommentar

Kommentar zu neuem Konzept
Pistorius’ Wehrdienst ist weder Fisch noch Fleisch

Ein Kommentar von
Lesezeit 3 Minuten
Hessen, Schwarzenborn: Mit Blattwerk und Gras getarnte Wehrpflichtige von den Panzergrenadieren liegen mit Gewehren des Typs G36 auf dem Bauch in Deckung, im Hintergrund werden sie von ihren Kameraden beobachtet. (Archivbild)

Die Bundeswehr braucht nach eigener Darstellung mindestens 22.000 Soldaten zusätzlich. Tatsächlich ist das Defizit noch größer.

Mit dem Plan des Bundesverteidigungsministers klafft weiter eine Riesenlücke zwischen dem, was nötig wäre, und dem, was möglich ist.

Das Problem beginnt schon bei der Begriffsfindung. Soll man das Ganze Wehrpflicht nennen, Wehrpflicht light oder – wie es der Verteidigungsminister tut – „Neuer Wehrdienst“. Daran sieht man: Was Boris Pistorius vorgeschlagen hat, um die Personalprobleme der Bundeswehr zu lösen, ist weder Fisch noch Fleisch. Dummerweise weiß der SPD-Politiker das selbst, muss aber seiner Partei gehorchen, die alles, was nach echter Pflicht aussieht, ablehnt.

Sicher, alle jungen Männer und Frauen einen Bogen beantworten zu lassen und damit das Interesse an einem etwaigen Dienst bei der Bundeswehr abzufragen, ist ein erster Schritt hin auf das Ziel, sie und so die gesamte Gesellschaft zumindest gedanklich wieder ein Stück näher an die Streitkräfte heranzuführen. Es dürfte auf diese Weise aber kaum gelingen, jene 5.000 bis 10.000 Rekruten zu gewinnen, die Pistorius vorschweben.

Im Übrigen würde auch diese Zahl längst nicht reichen. Die Bundeswehr braucht nach eigener Darstellung mindestens 22.000 Soldaten zusätzlich. Tatsächlich ist das Defizit noch größer. Überdies stellt sich die Frage, warum allein Männer zu einer Antwort verpflichtet werden sollen, Frauen hingegen nicht. Klar, das Grundgesetz lässt derzeit nichts anderes zu. Doch konsequent wäre, das Grundgesetz dann eben zu ändern. Kurzum: Mit Pistorius‘ Plan klafft weiter eine Riesenlücke zwischen dem, was nötig wäre, und dem, was möglich ist.

Nötig wäre eine allgemeine Dienstpflicht für Frauen und Männer, bei der sich die Betroffenen zwischen einer militärischen und einer zivilen Variante entscheiden könnten
Markus Decker

Nötig wäre eine allgemeine Dienstpflicht für Frauen und Männer, bei der sich die Betroffenen zwischen einer militärischen und einer zivilen Variante entscheiden könnten. Bedarf dafür gäbe es weit über die Bundeswehr und die neue Lage nach Russlands Angriff auf die Ukraine, der die Sicherheit ganz Europas bedroht, hinaus. In der Alten- und Krankenpflege etwa ist er gigantisch. Eine solch allgemeine Dienstpflicht könnte auch jener Entsolidarisierung entgegenwirken, die im Land immer weiter um sich greift und zunehmend in Wahlergebnissen niederschlägt.

Gegen eine Dienstpflicht spricht allerdings der grassierende Arbeits- und Fachkräftemangel. Die deutsche Wirtschaft jedenfalls würde sich bedanken, würde ihr staatlicherseits noch mehr Personal vorenthalten. Die Bundeswehr wiederum hätte gar nicht mehr die Kapazitäten, um ganze Jahrgänge zu ziehen. Zöge sie aber nur einen kleinen Teil, stünde wie bereits vor der Aussetzung der Wehrpflicht wieder die Frage nach der Wehrgerechtigkeit im Raum. Zu allem Überfluss hat die zurückliegende Europawahl nicht zuletzt Aufschluss über den Frust vieler junger Leute gegeben, die unter finanziellen Problemen, Vereinzelung und Perspektivlosigkeit leiden. Ob man ihnen da noch mit einem neuen Zwangsdienst kommen könnte?

Damit wären wir bei parteipolitischen Widerständen. In der Ampelkoalition will derzeit kaum jemand eine allgemeine Dienst- oder Wehrpflicht. Neben den meisten Sozialdemokraten setzen Grüne und Liberale auf Freiwilligkeit. Viel mehr als das, was Pistorius vorschwebt, wäre in dieser Legislaturperiode mithin gar nicht drin. Nach der Bundestagswahl könnte das anders aussehen, etwa im Rahmen einer Großen Koalition. Aber bis eine neue Regierung steht und richtig ins Rollen kommt, vergehen vermutlich noch zwei Jahre. Bis dahin blockieren sich Politik und Gesellschaft gegenseitig.

Es gibt daher zwei Möglichkeiten: Entweder folgen nach der Wahl energische Schritte hin zu einer Gewinnung des erforderlichen militärischen Nachwuchses. Oder Deutschland verliert dramatisch an Verteidigungsfähigkeit, was sich angesichts der Aggressivität des russischen Präsidenten Wladimir Putin bitter rächen könnte. Wir haben alle miteinander die Wahl.