Derzeit sterben Tag für Tag 150 Arten aus, eine weitere Million ist davon bedroht – und irgendwann auch der Mensch. Dabei wäre ein Gegensteuern machbar, so Forscher.
Die ignorierte Megakrise150 Tier- und Pflanzenarten sterben aus – jeden Tag
Die Menschheit arbeitet weiterhin blind daran, das Leben auf der Erde zu vernichten – obwohl sie so ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstört und obwohl ihr der Schutz der Natur sowie der Tier- und Pflanzenwelt sogar wirtschaftlich helfen würde. Mit dieser Warnung haben sich am Dienstag einige der renommiertesten deutschen Wissenschaftler sowie Umwelt- und Naturschutzgruppen an Politik und Wirtschaft gewendet. Der 15. Weltnaturgipfel, der in einer Woche im kanadischen Montreal beginnt, sei die letzte Chance zum internationalen Gegensteuern.
Im Vergleich zur Klimakrise werde das massive Artensterben und dessen verheerende Folgen für die Menschheit noch immer unterschätzt – obwohl die beiden Entwicklungen „gekoppelte Zwillingskrisen“ seien, sagte der Generaldirektor der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung, Klement Tockner, in Berlin – wo er als einer der Erstunterzeichner mit anderen Forschern einen Appell an Politik und Wirtschaft vorstellte.
Überleben auch für die Menschheit gefährdet
„Wir nutzen die natürlichen Ressourcen über ihre Kapazitätsgrenzen hinaus“, heißt es in der Frankfurter Erklärung des Bündnisses aus Forschern und Umweltgruppen – von Vertretern des Alfred-Wegener-Instituts in Potsdam bis zum Deutschen Naturschutzring (DNR).
Der Träger des Deutschen Umweltpreises 2022 und Chef der Frankfurter Zoologischen Gesellschaft, Christof Schenck, sprach von einem „Massensterben“, das trotz gegenteiliger Verpflichtungen der Weltgemeinschaften aus den letzten 30 Jahren ungebremst anhalte: Jeden Tag sterben demnach etwa 150 Tier- und Pflanzenarten für immer aus, etwa eine weitere Million sei vom Aussterben bedroht.
Wenn die Menschheit nicht gegensteuere, sei das Überleben auf der Erde gefährdet – auch für die Menschheit in ihrer heutigen Form. So müsse man als Konsequenz aus Artensterben und Klimawandel in den nächsten Jahrzehnten fest mit Pandemien rechnen, die das Ausmaß von Corona zu übertreffen drohen, auch Luft- und Trinkwasserverschmutzen gefährden die Gesundheit.
Artenvielfalt mit einem Preisschild versehen
Die Frankfurter Erklärung stellt unter anderem sechs konkrete Forderungen an die Bundesregierung, darunter die Verpflichtung für den Handel, Lieferketten ohne Entwaldung zu garantieren, den Abbau von umweltschädlichen Sanktionen sowie die Einrichtung naturverträglicher Rahmenbedingungen für Unternehmen bei deren gleichzeitiger Verpflichtung zu messbarem Artenschutz.
Es fehle ein System, das den Verlust von Natur und Artenvielfalt mit einem Preisschild versehe, sagte Mitunterzeichner Jörg Rocholl, Präsident der internationalen Wirtschaftsuniversität ESMT in Berlin: Erst wenn Unternehmen – und nicht länger die Gemeinschaft – für die Kosten ihrer umweltschädlichen Aktivitäten aufkommen müssten, würden sie zu entsprechenden Innovationen bewegt.
Es sei machbar, aber auch zwingend notwendig, eine Form des Wirtschaftens zu etablieren, die im Einklang mit der Natur stehe und die Kosten des Artenverlusts abbilde, so die Forscher. So spare die Stadt New York jährlich 200 Millionen Dollar für die industrielle Wasseraufbereitung, seit sie nach massiver Trinkwasserverschmutzung mit daraus folgender -knappheit in den 1990er-Jahren ihre natürlichen Wasserquellen unter gesetzlichen Schutz stellte.
Deutschland will 30 Prozent Land unter Schutz stellen
Der Weltnaturgipfel findet vom 7. bis zum 19. Dezember statt. Das für die Verhandlungen in Kanada zuständige Bundesumweltministerium hatte zuvor erklärt, Deutschlands Hauptziel für die Konferenz sei eine internationale Verpflichtung auf „ehrgeizige, messbare Ziele“ und auf wirksame Schritte zu deren Kontrolle und Umsetzung. So teile Deutschland das Ziel, mindestens 30 Prozent der weltweiten Landes-und Meeresflächen bis 2030 unter Schutz zu stellen. Bislang ist nur ein Bruchteil davon geschützt.
Zentral für echte Erfolge sei eine „angemessene Finanzierung“, so das Ministerium. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte jüngst verkündet, dass Deutschland seinen Beitrag für den internationalen Artenschutz auf 1,5 Milliarden Euro verdoppeln werde. Damit werde die Bundesrepublik tatsächlich zum größten Geldgeber dieses UN-Programms, lobte Forscher Schenck zwar am Dienstag in Berlin. Doch den 1,5 Milliarden stünden noch immer 65 Milliarden Euro an umweltschädlichen Subventionen, etwa im Agrar- und Verkehrsbereich, gegenüber, so Schenk. Und allein die Flutkatastrophe im Ahrtal, die als eine Folge des Klimawandels gilt, habe Kosten von 30 Milliarden Euro verursacht.
Lemke: Rückenwind für Verhandlungen
Angesichts des enttäuschenden Ergebnisses der UN-Klimakonferenz vor einer guten Woche im ägyptischen Scharm el Scheich hatte Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) betont, dass die Weltgemeinschaft immerhin eine Botschaft nun verstanden habe: „Klimaschutz ist auf den Schutz der Natur und auf intakte Ökosysteme angewiesen“, so Lemke. Sie lobte, dass die Abschlusserklärung auch auf sogenannte „Nature-based Solutions“ setze, also Klimaschutz durch intakte und wiederhergestellte Natur – etwa Moore, Feuchtgebiete und Wälder.
Am Wochenende danach ging nun in Panama die Weltartenkonferenz Cites zum globalen Handel mit gefährdeten Arten überraschend erfolgreich zu Ende: Die Vertreter von 184 Staaten hatten nach zweiwöchigen Verhandlungen beschlossen, dass Hunderte Wildarten, darunter Haie und viele Reptilien, künftig nur noch nachhaltig gehandelt werden dürfen. Lemke sagte, die Ergebnisse „geben uns Rückenwind für die Verhandlungen auf der Weltnaturkonferenz in Montreal“.