Der Amoklauf bei einer Versammlung der Zeugen Jehovas gehört zu jenen Taten, vor denen sich eine freie Gesellschaft leider nicht restlos schützen kann. Die kleine Glaubensgemeinschaft ist dennoch aufgerufen, das Geschehen aufzuarbeiten, kommentiert Eva Quadbeck.
Amoklauf in HamburgZeugen Jehovas müssen sich möglichen Motiven der Tat stellen
Hamburg 2023 wird sich ins kollektive Gedächtnis einbrennen als eine dieser Bluttaten, die einen fassungslos zurücklassen. Brutal wurden unschuldige Menschen aus dem Leben gerissen, die sich gerade noch in ihrer Glaubensgemeinschaft zusammenfanden. Unter den Opfern ein ungeborenes Kind - das berührt besonders.
Hamburg 2023 wird auch als eine dieser Taten in Erinnerung bleiben, vor denen sich eine freie Gesellschaft nicht restlos schützen kann. Auch nicht mit guten Waffengesetzen, die in Deutschland schon recht weitreichend sind. Die Einhaltung und Überprüfung der Waffengesetze freilich könnte besser sein. Hamburg 2023 hätte eine schärfere Handhabung allerdings nicht verhindert: Der Täter von Hamburg, bei dem psychische Probleme vermutet werden, war offensichtlich gerade amtlich überprüft worden.
Nun könnte man die Kriterien, wer eine Waffe besitzen darf, noch engmaschiger fassen. Es lohnt sich, diese Regelungen abermals auf den Prüfstand zu stellen. Lücken werden dennoch bleiben. Das Risiko, dass es zu einer Tragödie wie in Hamburg kommt, kann eine Gesellschaft mit guten Gesetzen und menschlicher Aufmerksamkeit minimieren, ausschließen kann dies leider kein Mensch und kein Gesetz.
Die gute Nachricht nach der schrecklichen Tat ist, dass die Polizei in Hamburg offensichtlich sehr gut aufgestellt war. Polizei und die Einheit USE, die zur Unterstützung für erschwerte Einsatzlagen gegründet wurde, waren binnen fünf Minuten vor Ort. Sie hätten also eine weitere Eskalation verhindern können.
Die Bevölkerung wurde umgehend gewarnt und in den frühen Morgenstunden entwarnt - die entsprechenden Apps auf den Smartphones der Leute funktionierten. Immerhin. Der Blick auf den Täter und die Opfer wirft viele Fragen auf. Bei dem Amoklauf hat ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas die Waffe gegen seine frühere Glaubensgemeinschaft gerichtet.
Zeugen Jehovas müssen sich möglichen Motiven der Tat stellen
Um keinerlei Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Religionsfreiheit ist ein grundgesetzlich verbrieftes und hohes Gut. Jeder Mensch darf glauben und denken, was er für richtig oder eben auch für gottgegeben hält. Es gilt aber auch: Wenn innerhalb einer so kleinen Glaubensgemeinschaft eine so grausame Bluttat geschieht, dann muss den Ursachen nachgegangen werden.
Die Zeugen Jehovas – das sind die Menschen, die oft an Bahnhöfen ihre Zeitschrift „Erwachet“ anbieten – müssen diese Tat zwingend intern aufarbeiten. Die Gemeinschaft changiert zwischen anerkannter Körperschaft wie in einer Reihe von Bundesländern – und Sekte, deren Merkmale sie zumindest teilweise trägt.
Wer die Organisation verlässt, wird teils als Dämon gesehen
So sehen sich die Zeugen Jehovas als einzige Religionsgemeinschaft auf der Welt, die auf dem Weg zu Gott sei. Wer die Organisation verlässt oder ausgeschieden ist, wird als Abtrünniger, teils gar als Dämon, gesehen. Dieser Status traf offensichtlich auf den Täter zu. Es ist also unbedingt notwendig, dass sich die Glaubensgemeinschaft auch den möglichen Motiven der Tat stellt.
Unabhängig von der Tat ist es zudem zwingend, dass die Zeugen Jehovas so wie sie Religionsfreiheit einfordern, den Ausstieg aus ihrer Gemeinschaft auch als Freiheit der Religion tolerieren. Religionsfreiheit darf keine Einbahnstraße sein.
Der Täter war mutmaßlich geistig verwirrt. Das macht die Analyse dieser Tragödie schwieriger. Dieser Umstand darf keinesfalls in der nun anrollenden gesellschaftlichen Debatte um Sekten, sektenähnliche und kleine radikale religiöse Gemeinschaften vergessen werden. Nutzen wird eine solche Debatte nur, wenn sie differenziert und mit Respekt vor den Zeugen Jehovas geführt wird - auch wenn man deren Art zu glauben und zu leben abwegig findet.