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„Wie viele Bullenwagen sollen brennen?“Wie sich junge Randalierer zu den Silvesterkrawallen verabredeten

Lesezeit 5 Minuten
Gegenstände brennen auf einer Kreuzung, zwei vermummte Personen sind zu sehen.

Müllcontainer und alte Autoreifen brannten in der Silvesternacht in Bonn-Medinghoven. (Symbolbild)

Gezielte Angriffe auf Einsatzkräfte und sogar Entführungspläne: Die Silvesterkrawalle in Bonn-Medinghoven waren offenbar durch einen Netflix-Film angeheizt.

In der Chatgruppe der neun Jugendlichen aus der Bonner Hochhaussiedlung Medinghoven geht es in den Tagen vor dem Jahreswechsel hoch her. „Silvester wird brennen“, schreibt einer. „100 Prozent“, ein anderer. Ein Dritter antwortet mit Emojis für Flammen, Blutstropfen und Polizeiautos.

Dann geht es schon um Organisatorisches, wer kann „Benzin klären“, wer Molotowcocktails mitbringen? „Wie viele Bullenwagen sollen brennen?“, fragt ein Chat-Mitglied. Vom Bombenbau mit Schwarzpulver und Krieg ist die Rede. „Jungs. Sollen wir einen Bullen entführen?“ fragt einer. „Bei Allah, meine ernst“, schickt er hinterher. Ein Kumpel stimmt zu: „Da Yallah“ (Ja).

Ermittlungen gegen 16- bis 19-Jährige Verdächtige aus Medinghoven

Die WhatsApp-Gruppe „Silvester MV vs. Nazis“ hat sich am 27. Dezember 2022 gebildet. MV steht für Medinghoven, und mit „Nazis“ ist wohl die Polizei gemeint. Jedenfalls geht die Staatsanwaltschaft Bonn davon aus, die gegen die neun jungen Männer im Alter von 16 bis 19 Jahren wegen des Verdachts des schweren Landfriedensbruchs, tätlicher Angriffe auf Polizeibeamte, versuchter gefährlicher Körperverletzung sowie Sachbeschädigung ermittelt.

Der Chat-Verlauf ist in den Akten dokumentiert. Nach Ermittler-Erkenntnissen besitzen die meisten der Beschuldigten außer der syrischen, marokkanischen oder jordanischen auch noch die deutsche Staatsangehörigkeit, zwei haben irakische oder somalisch-rumänische Wurzeln, alle Verdächtigen wohnen noch bei ihren Eltern.

Die Chatgruppe wollte den Ermittlungen zufolge offenbar dem Netflix-Bestseller „Athena“ nacheifern. Der Spielfilm handelt von sozial abgehängten Jugendlichen in einem der Pariser Banlieues, die sich gegen Polizeigewalt auflehnen. Ein Ghetto-Blockbuster, in dem Heranwachsende mit meist afrikanischen Wurzeln ihrem Hass auf die Obrigkeit freien Lauf lassen. Untermalt von Chorgesängen fliegen dort Molotow-Cocktails und Feuerwerkskörper auf schwer bewaffnete Polizeitruppen. Der heroisch gezeichnete Anführer stürmt mit Gleichgesinnten eine Wache, ein Beamter wird als Geisel genommen. Soweit der fiktive Plot.

Parallelen zum Gesellschaftsdrama Athena

Auch Medinghoven ist ein sozialer Brennpunkt. Parallelen zum Gesellschaftsdrama Athena sind offensichtlich: Der migrantische Bewohneranteil ist hoch, es gibt Armutsprobleme. Auf einem Snapchat-Video, so dokumentieren es die Akten der Ermittler, verkündet einer der MV-Initiatoren: „Alles bereit, alles da …Heute Athena.“ Auch dokumentiert sind die Geschehnisse der Silvesternacht: Müllcontainer und eigens organisierte alte Autoreifen brennen, Raketen gehen auf Polizisten und Feuerwehrleute nieder. Aus einem Pulk von 40 vermummten Randalierern sollen faustgroße Steine geflogen sein. Die Staatsmacht musste sich zeitweise sogar zurückziehen, bis eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei eingetroffen war.

Bereits in der Silvesternacht nehmen die Einsatzkräfte einen der neun Verdächtigen als mutmaßlichen Randalierer fest. Auf dem Handy des 19-jährigen Abdi M. (Name geändert) soll sich der Chatverlauf „Silvester MV vs. Nazis“ gefunden haben, der zu den übrigen Männern führte.

Polizeibeamte stehen hinter explodierendem Feuerwerk, ein Polizeibus ist zu sehen sowie Einsatzkräfte in Schutzmontur.

Außer in Bonn knallte es in Ruhrgebietsstädten wie Duisburg, Essen, Bochum oder Hagen, aber auch in Frankfurt und vor allem in Berlin. Dort entstand das Bild.

Seit Neujahr ist die Diskussion über die Ausschreitungen zum Jahreswechsel und ihre Hintergründe im Gange. Durch den hohen Anteil von mutmaßlichen Tätern mit Migrationshintergrund haben die Gewaltausbrüche eine neue Integrationsdebatte ausgelöst. Außer in Bonn knallte es in Ruhrgebietsstädten wie Duisburg, Essen, Bochum oder Hagen, aber auch in Frankfurt und vor allem in Berlin. Dort hat eine vorläufige polizeiliche Auswertung ergeben, dass nur 16 der 44 bisher identifizierten mutmaßlichen Täter ausschließlich die deutsche Staatsbürgerschaft haben.

In NRW ermitteln Staatsanwälte in 76 Fällen gegen Randalierer

In NRW ermitteln Staatsanwälte in 76 Fällen gegen Randalierer. Ein Drittel der Verfahren laufen laut dem Landesinnenministerium wegen Attacken auf Polizisten und Polizistinnen. Gut die Hälfte der 42 Angreifer sind demnach Ausländer. Den Angaben zufolge ist allerdings „eine Vielzahl der Tatverdächtigen noch nicht ermittelt“.

Auch im Fall der neun Bonner Verdächtigen dauern die Nachforschungen nach Angaben der Staatsanwaltschaft noch an. Das Beweismaterial ist ihrer Auskunft zufolge erdrückend. Demnach entdeckten die Ermittler auf den beschlagnahmten Handys Videos, auf denen sich die Jugendlichen später in der Nacht mit ihren Taten gebrüstet haben sollen. Abdi M. schreibt einem Bekannten: „Eiskalt Athena“ und später noch „Beste Silvester meines Lebens“. Die Ermittler gehen davon aus, dass auch hier Bezug zum Film Athena genommen wird.

Anwalt der Beschuldigten: Verfahren ist politisch aufgeheizt

Der Bonner Rechtsanwalt Thomas Ohm, dessen Kanzlei fünf der Beschuldigten vertritt, spricht hingegen von einem politisch aufgeheizten Verfahren: „Im Grunde sind das doch nur klassische Jugendstrafverfahren, die hochstilisiert wurden wie der Eifelturm,“ so der Strafverteidiger. Bei den Chats handele es sich „in Wahrheit“ lediglich „um eine dumme Prahlerei, entstanden aus dem wirren Hormongezitter junger Männer.“

Die Existenz der WhatsApp-Gruppe und die Nachrichten darin stellten „keinen Nachweis konkreter strafrechtlich relevanter Handlungen“ dar. „Und einen Polizeibeamten zu entführen, hat keiner ernsthaft gewollt – das ist doch Unfug“, lautet sein Fazit.

Eine Jugendstrafkammer wird darüber befinden müssen, wie ernst es den Beschuldigten mit ihren Silvester-Attacken war. Auf Snapchat oder Instagram jedenfalls prahlten die neun jungen Männer in ihrer Community in den Stunden nach der Silvester-Attacke mit ihren Taten. Abdi M. berichtet, dass „Ibaesh“ da gewesen sei „und es wurde Krieg gemacht“. Ibaesh kommt aus dem Arabischen und bedeutet Ungeziefer – ein Synonym für die Polizei.

Bei mehreren Tatverdächtigen ist die Kripo den Angaben zufolge auf weitere entlarvende Selfies, Clips oder Chatnachrichten gestoßen. Bei Durchsuchungen sollen Sturmhauben und Mützen mit eingeschnittenen Augenschlitze gefunden worden sein. Auch haben die Ermittler inzwischen fünf weitere Verdächtige ausgemacht, die zwar wohl nicht zur Chatgruppe gehören sollen, aber an der Randale beteiligt waren.

Mit ihren Ermittlungen verhindern die Strafverfolger vielleicht sogar schon Ausschreitungen zum nächsten Jahreswechsel. Den Erkenntnissen zufolge haben die Bonner Staatsschützer unter den Chat-Nachrichten einen Post, nach dem es beim nächsten Silvester-Event 2023/2024 wieder richtig abgehen soll. Dann werde man eine „Ibaeshwache“ (Polizeiwache) stürmen.