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Hass im InternetKatrina Reichert wird massiv bedroht und kann nichts dagegen tun

Lesezeit 6 Minuten
Katrina Reichert Cybermobbing

Katrina Reichert wurde Opfer von Cybermobbing.

  1. Katrina Reichert ist transgeschlechtlich, lesbisch und Feministin. Im Internet erhält sie menschenverachtende Nachrichten.
  2. Sie fällt Menschen zum Opfer, deren Hobby es ist, Hass zu verbreiten.
  3. Wer verstehen will, was ihr widerfahren ist, muss in eine Parallelgesellschaft blicken, die versteckt und leise entstanden ist.

Düsseldorf – Eine Kanne Arabica-Kaffee und zwei Schachteln Zigaretten hat Katrina Reichert gebraucht, um heute fit zu werden. Jetzt steht sie an einer Kreuzung in Düsseldorf, die Hände kramen in den Hosentaschen. Die Fußgänger-Ampel ist noch rot. Noch eine, die letzte Kippe. Katrina Reichert, das ist ihr Trick, raucht ihre Gefühle, den Stress und die Wut, einfach auf Lunge.

Die Sonne knallt gnadenlos vom blauen Himmel, es ist einer der letzten schönen Tage des Jahres. Die Ampel wird grün. Hallo Frau Reichert, geht's gut? „Überhaupt nicht“, sagt sie. Und lächelt. Immerhin. Es ist schwierig, wirklich zu verstehen, was Katrina Reichert widerfahren ist, immer noch widerfährt. Wer es versuchen will, muss in eine Parallelgesellschaft blicken, die versteckt und leise entstanden ist – im Internet. Und riesige Auswirkungen auf die Lebensrealität ihrer Opfer hat.

Man solle sich ihr „widmen“

Im Winter 2013 beginnt eine virtuelle Hetzjagd, in der Katrina Reichert keine Möglichkeit haben wird, wegzulaufen. Unbekannte fangen an, Material über Reichert zu sammeln. Sie selbst bekommt das zu diesem Zeitpunkt gar nicht mit, sie kennt keinen der Nutzer. In einem Gruppenchat verhöhnen und beleidigen sie Reichert. Im November 2015 reicht ihnen das nicht mehr. Einer von ihnen postet Reicherts Twitter-Accountnamen in das Forum. Man solle sich ihr „widmen“.

Es dauert nicht lang, dann wird Katrina Reichert ganz öffentlich gehasst. Von Hunderten Menschen. Jeden Tag. Online. Warum, das weiß sie selbst nicht. Weiß niemand. Vielleicht ist es Willkür. Wahrscheinlich, sagt sie, weil sie so ist, wie sie ist. Katrina Reichert ist transgeschlechtlich, lesbisch und Feministin. „Schauen Sie mich an, ich habe eine rote Zielscheibe auf der Brust“, sagt sie. Auf Twitter tritt sie damals lautstark für die Rechte von Transgeschlechtlichen ein. Die ersten Nachrichten, die ersten Beleidigungen. Reichert reagiert. Noch. Denkt, sie könne mit denen diskutieren. Nach wenigen Versuchen merkt sie: Die wollen nicht reden.

Reichert weigert sich, Angst zu haben

Wenige Tage vergehen, dann bekommt Reichert mehr als 100 Hassnachrichten am Tag. Die Absender sind anonym, immer versteckt hinter kryptischen Nutzernamen. Es sind Trolle, Menschen, die im Internet möglichst extreme Dinge von sich geben, um möglichst heftige Reaktionen zu erhalten. Sie schreiben ihr: Alle Transen ins Gas. Sie montieren Reichert einen Hitlerbart ins Gesicht und eine Hakenkreuz-Armbinde auf den Arm. Sie sagen, sie sei doch ein Mann. Das verletzt sie am meisten. Auch auf anderen Portalen und per Mail finden sich die Beleidigungen.

Und dann tricksen sie Reichert aus. Über ein Inserat in einem Online-Auktionshaus finden sie ihre Adresse heraus. Stellen sie online. Am nächsten Tag liegt der erste Drohbrief in Reicherts Post. Man solle sie öffentlich erhängen, steht drin. Reichert hat seitdem eine Waffe auf ihrem Nachttisch liegen. Vorsichtsmaßnahme. Sie weigert sich trotzdem, Angst zu haben. Nur wie wehrt man sich gegen einen Gegner, der immer aus dem Verborgenen angreift? Es ist eine neue Form des Cybermobbings. Denn anders als in der gängigen Auffassung kennen die Opfer die Täter nicht.

Polizei sagt: Da könne man nichts tun

Reichert dokumentiert die Hetze und geht zur Polizei. Eine halbe Stunde habe es gedauert, erzählt sie, bis die aufnehmenden Beamten überhaupt verstanden hätten, was da los ist, im Internet. Dann die Auskunft: Da könne man nichts tun. „Die haben mir gesagt: »Wenn Sie im Internet so hart angegangen werden, dann gehen Sie da halt nicht mehr hin.«“ Als rate man einem Gewaltopfer, eben nicht mehr gegen Fäuste zu laufen.

Reichert beginnt, selbst nach den Identitäten hinter den Angriffen zu suchen. Vergeblich. Während ihrer Recherche stößt sie allerdings auf andere Betroffene. Und merkt, dass sie nicht allein ist. Im Gegenteil. Sie ist nur ein Opfer eines riesigen, organisierten Hass-Netzwerks. Aus 200 bis 300 Kernaccounts besteht diese Szene, gelegentliche Mitstreiter treiben die Zahl der Beteiligten auch mal in den vierstelligen Bereich. „Sifftwitter“ wird das Netzwerk von Außenstehenden genannt. Zusammen wird dort beleidigt und denunziert. Online-Hasswellen als Gemeinschafts-Events. Wenn einer der Angreifer gesperrt wird, macht er sich ein neues Profil. Wenn die Opfer versuchen, die Accounts zu blockieren, auch.

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Wie weit diese Szene bereit ist zu gehen, zeigt am besten der Fall von Rainer Winkler. Ein Bayer, der unter dem Namen „Drachenlord“ Clips auf die Videoplattform Youtube stellt. Weil auch er Hunderte Hassnachrichten pro Tag bekam, stellte Winkler 2013 in einem Wutanfall seine Adresse ins Internet. Und forderte sie auf: Kommt her, wir regeln die Sache persönlich.

Ab da wurde es für sie ein riesiges Spiel. Es gibt Videos, wie Menschen Getränke-Dosen auf das Grab von Winklers Vater werfen. Und andere, in denen sie ihn maskiert attackieren. Ende August belagerten etwa 600 bis 800 von ihnen das Haus von Winkler, das in einem bayerischen 40-Seelen-Dorf liegt. Ein 24-Jähriger, der Chemikalien zum Bombenbau auf Winklers Namen bestellte, sitzt mittlerweile im Gefängnis.

Hetze ist ihr Hobby

„Dabei sind auch die Leute, die Katrina Reichert terrorisiert haben“, sagt Luca Hammer. Er ist bislang der Einzige, dem es gelungen ist, zumindest Teilidentitäten hinter den Accountnamen aufzudecken. Hammer ist Social-Media-Analyst. Er hat die Angriffe ausgewertet. „Das sind keine arbeitslosen Rechten“, sagt er. „Das sind ganz normale, berufstätige Menschen. Das meiste passiert nach Feierabend.“ Alles, was sie Reichert oder Winkler angetan haben, sei kaum mehr als eine schlichte Freizeit-Beschäftigung.

Eine krude und eigendynamische Mischung aus Anonymität, Langeweile und Ruhmsucht. Die Szene greife an, wenn sich einzelne Nutzer irgendwie in ihrer Meinungsfreiheit beschnitten fühlen würden. „Zum Beispiel durch Reicherts Feminismus.“ Für sie ist das spaßiger Zeitvertreib, ein Wettbewerb, wer die krasseste Hassnachricht schreiben kann. Für ihre Opfer Tortur.

„Klar wird das am Ende gefährlich für die Opfer. Jeder will immer noch einen Schritt weiter gehen“, sagt Hammer. Er glaubt, selbst wenn die Polizei eingreifen würde: Es fehlten die Ressourcen, um die Täter anhand ihrer IP-Adresse – die Spur des eigenen Computers, die jeder Nutzer im Internet hinterlässt – ausfindig zu machen. Möglich wäre das seit Oktober 2017, seit Inkrafttreten des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Nur wäre der Aufwand riesig. Beleidigung und üble Nachrede sind verhältnismäßig geringfügige Straftaten.

Twitter-Account gesperrt

Reichert hatte sich einst mit acht anderen Opfern organisiert, sie wollten eine Sammelklage abgeben. Von dem Anwalt habe sie allerdings seit zwei Jahren nichts mehr gehört. Vielleicht, glaubt sie, weil auch er das Problem nicht in Gänze verstand.

Viel Zorn, ein wenig Ohnmacht. Noch immer finden sich beinahe täglich neue Hassnachrichten gegen Reichert. Allerdings ist sie auf Twitter nicht mehr aktiv. Keine eigene Entscheidung. Die Plattform, die dafür bekannt ist, kaum Inhalte zu entfernen, hat ihren Account gesperrt. Ironischerweise wohl, weil Reichert selbst in den Antworten ausfallender geworden ist. „Die haben mich mundtot gemacht“, sagt sie. Inzwischen hat die Szene sich neue Opfer gesucht. Ohne Reaktionen funktionieren die Aktionen schließlich nicht.

Daten werden oft nicht weitergegeben

In Nordrhein-Westfalen gibt es bereits seit April 2016 die Zentral- und Ansprechstelle für Cybercrime (ZAC), die von der Staatsanwaltschaft Köln geführt wird. Sie soll Phänomene der Cyberkriminalität frühzeitig erkennen und einheitliche Standards und Strategien zur strafrechtlichen Bekämpfung entwickeln. Auch Schulungen von Beamten sind ihre Aufgabe. Fälle wie der von Reichert werden laut Auskunft des NRW-Justizministeriums allerdings immer noch von den zuständigen Staatsanwaltschaften bearbeitet.

Das größte Problem sind laut NRW-Justizminister Peter Biesenbach die sozialen Netzwerke selbst. In 40 Prozent der Fälle würden erbetene Daten von mutmaßlichen Tätern nicht übergeben. „Ohne die Information, wer einen Inhalt eingestellt hat, können wir Strafverfolgung nicht betreiben“, sagte Biesenbach im Oktober. Eine offizielle Statistik, wie viele Straftaten im Zusammenhang mit Cyberkriminalität in Deutschland oder NRW angezeigt werden, gibt es nicht.