Thomas Claes, Libyen-Direktor der Friedrich-Ebert-Stiftung, zur dramatischen Lage nach dem Dammbruch in Darna.
Hochwasser-Katastrophe„Sie finden ständig weitere Tote in Libyen, die an den Strand gespült werden“
Thomas Claes (37) ist Direktor des Regionalbüros Libyen der Friedrich-Ebert-Stiftung. Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) spricht er über die schwierige Lage für Rettungskräfte, die Rolle staatlicher Hilfe und die Korruption und Veruntreuung von Geldern für den Wiederaufbau.
„Wie ist die Situation in der besonders betroffenen Stadt Darna?“
Die Lage ist weiterhin extrem katastrophal. Es sind kaum Rettungsteams oder Vertreter von Behörden vor Ort. Die meiste Hilfe leisten die Menschen aus anderen Städten der Region. Jeder versucht, irgendwie zu helfen. Die Hilfsorganisation Roter Halbmond versorgt die Menschen mit dem Nötigsten. Doch im Moment sind sie damit beschäftigt, die vielen Leichen zu bergen. Sie finden ständig weiterer Tote, die vom Meer an den Strand gespült werden oder zwischen Trümmern in der Stadt entdeckt werden. Die Sturzflut nach der Zerstörung der Staudämme hat die Menschen schlicht ins Meer herausgerissen und nun werden sie wieder angeschwemmt.
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Vor welchen Herausforderungen stehen die Rettungskräfte?
Die gesamte Versorgung ist zusammengebrochen: Das Telefonnetz, die Elektrizitätsversorgung und die Straßen in der gesamten Region sind unterspült und nicht befahrbar. Die Rettungsteams und Versorgungskonvois aus den benachbarten Städten kommen kaum nach Darna. Das liegt auch an der Geografie: Die Stadt ist von Bergen und dem Meer umringt, mittendrin das meist ausgetrocknete Flussbett. Nur wenn es regnet, füllt es sich mit Wasser aus der Wüste und wird zu einem reißenden Strom. Die beiden Dämme aus den 1970er Jahren sollen eigentlich vor Überschwemmungen schützen, sind aber bei diesen Wassermassen gebrochen.
Anzahl der Toten in Darna noch völlig offen
Einem Ministeriumssprecher zufolge sei die Zahl der Toten bei mehr als 5000. Wie verlässlich sind diese Angaben?
In den ersten Tagen haben libysche Regierungsvertreter die Situation sehr stark heruntergespielt und von hundert Opfern gesprochen. Erst nach und nach wurde das ganze Ausmaß bekannt. Ich gehe davon aus, dass diese Zahl von 5000 Toten auch noch eine Untertreibung ist. Aber niemand hat verlässliche Zahlen, weil einzelne Stadtviertel von Darna noch gar nicht von den Rettern erreicht wurden. Wir wissen nicht, wie viele Menschen ins Meer hinaus gespült wurden. Es gibt auch noch andere Gegenden als Darna, die betroffen sind und wo keine Rettungskräfte bisher vordringen konnten. Alle Zahlen sind bisher also nur Schätzungen. Die Leichen werden geborgen, zur späteren Identifizierung fotografiert und dann sehr schnell in Massengräbern beerdigt. Die größte Gefahr für die Region ist jetzt, dass sich Krankheiten ausbreiten.
Libyen ist vom Bürgerkrieg gezeichnet, heute gibt es zwei rivalisierende Regierungen. Welchen Einfluss hat das auf die Situation?
Das macht die Lage leider noch einmal sehr viel schwieriger. Es gibt keine funktionierende staatliche Katastrophenhilfe, und das wird jetzt für die Menschen zum Problem. Wir sehen vor allem private Initiative zur Rettung, Unternehmen und Organisationen. Der Staat ist weitgehend abwesend. Seit Jahren wird das Land von bewaffneten Milizen regiert und das hat zu dieser Katastrophe beigetragen. Der Damm wurde offenbar lange Zeit nicht gewartet, die Gelder in eigene Taschen umgeleitet und die Menschen wurden nicht vor der Flut gewarnt. Für Warlords hat Katastrophenprävention keine Bedeutung. Viele Probleme lassen sich also auf die Konfliktsituation in Libyen zurückführen, und es steht zu befürchten, dass die politischen Führer versuchen werden, ihre Vorteile aus dem Hochwasser zu ziehen.
Inwiefern?
In Libyen sollten 2021 eigentlich Wahlen stattfinden, doch dann wurden sie mehrfach verschoben. Die Flutkatastrophe ist ein guter Vorwand, die Wahlen erneut zu verschieben und weiter an der Macht zu bleiben. Ich kann mir gut vorstellen, dass es heißt: Wir müssen uns jetzt auf den Wideraufbau konzentrieren und die Wahlen können auch 2024 nicht stattfinden. Das ist ein Teil des Problems, weil die politischen Führer nicht gewählt wurden, sich daher nicht für die Bevölkerung verantwortlich fühlen und wichtige staatliche Aufgaben, wie den Katastrophenschutz, komplett vernachlässigen.
Hilfe von außen gelangt kaum nach Darna
Das THW, die EU und die gesamte Weltgemeinschaft hat Libyen Hilfe zugesagt. Werden die Hilfslieferungen überhaupt ankommen?
Das ist eine gute Frage, denn schon jetzt gelangt kaum Hilfe von außen in die besonders schwer betroffene Stadt Darna. Zumindest kurzfristig wird dies weiterhin schwierig bleiben. Fast alle Hilfsflüge gehen nach Bengasi und von dort ist es ein weiter Weg bis Darna, über schlecht ausgebaute und durch die Fluten beschädigte Straßen. Jetzt sind diese Straßen ohnehin überfüllt und es gibt ein großes Verkehrschaos.
In der Vergangenheit sind viele Gelder durch Korruption versickert. Ist das bei den Hilfsgeldern ein weiteres Problem?
Wir müssen davon ausgehen, dass nicht alle Gelder ankommen. In einem Land wie Libyen, in dem so wenig Rechenschaftspflicht herrscht und das Justizwesen zusammengebrochen ist, werden solche Gelder veruntreut werden. Jetzt werden vorwiegend Sachspenden geliefert wie Generatoren und Wasseraufbereitungsanlagen. Aber Libyen ist eigentlich kein armes Land, die Zentralbank hat sehr große Reserven aus dem Erdölgeschäft. Diese Gelder werden für den Wiederaufbau benötigt, und da wird es zu weitaus größeren Veruntreuungen und zu Korruption kommen als jetzt bei den Hilfsgeldern aus dem Ausland. Wir haben in der Vergangenheit häufig gesehen, dass hohe Summen der Zentralbank in den Taschen von Milizenführern gelandet sind.