Meistgelesen 2022Hätten in Sinzig während der Flutkatastrophe mehr Menschen gerettet werden können?
- Dieser Artikel ist zuerst am 13. Juli 2022 erschienen.
Walter wird in der Nacht zum 15. Juli 2021 plötzlich wach. Sein Zimmer im Lebenshilfehaus (LHH) für behinderte Menschen in Sinzig liegt nach hinten zum Garten raus. Walter (Name geändert) hat Durst. Er will etwas trinken. Als der Heimbewohner sich nach unten zu seiner Flasche beugt, bemerkt er den nassen Boden. Walter schaltet das Licht ein. Blickt hinunter auf die braune Brühe. Der damals 32-jährige Patient stürzt hinaus auf den Gang und sieht, wie das Wasser durch den Flur läuft. Er versucht die Tür nach draußen zu öffnen, um die Nachtwache zu alarmieren, scheitert aber. Der einsetzende Strom drückt zu stark von außen dagegen.
Zurück im Trakt kümmert Walter sich um zwei Heimbewohnerinnen. Das Licht geht aus. Die drei verschanzen sich in einem Zimmer, schließen die Tür, um das Wasser rauszuhalten. Walter öffnet ein Fenster, das zum Parkplatz führt. „Ich wollte schauen, ob vorne auch Wasser ist, und es war überall Wasser“, gibt er nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ später bei der Polizei zu Protokoll. Schnell strömen die Fluten in das Gebäude, der Pegel steigt unablässig.
Eine Bewohnerin ertrank, weil sie nicht schwimmen konnte
Zuerst sei Melanie ertrunken, berichtet der Zeuge. „Die konnte nicht schwimmen.“ Ebenso wenig wie Walter. Die Wassermassen spülen ihn raus. Geistesgegenwärtig klammert er sich an den Rollläden fest. Mit den Füßen findet er keinen Grund. Doch Walter lässt nicht nach. Sein Handy hält er ebenfalls fest. Im Gruppen-Trakt flehen viele Heimbewohner verzweifelt um Hilfe. Draußen hört niemand ihre Rufe.
Walter hingegen hält durch. Sein Überlebenswille rettet ihn als Einzigen seiner Gruppe aus der Flutkatastrophe. Drei Stunden seien vergangen, ehe die Feuerwehr ihn gefunden habe, sagt der geistig leicht behinderte Heimbewohner. Zwölf Frauen und Männer werden von den Wassermassen überrascht und sterben in jener Nacht im Erdgeschoss des Haupthauses.
Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung
Bis heute erforschen die Strafverfolger in Koblenz die Ursachen des tödlichen Dramas als Teil eines umfangreichen strafrechtlichen Komplexes, der das Katastrophenmanagement der Verantwortlichen im Krisenstab von Ahrweiler in der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli durchleuchtet. Seit knapp einem Jahr ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz gegen den damaligen Landrat Jürgen Pföhler (CDU) und dessen Krisenstabsleiter wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen. Der Anfangsverdacht steht im Raum, dass die Bevölkerung trotz erkennbarer Hinweise zu spät oder gar nicht vor der tödlichen Sturzflut gewarnt wurde. Eine Hochwasserwelle, die von der oberen Ahr bis hinunter nach Sinzig 134 Menschen in den Tod riss.
Beide Beschuldigte weisen über ihre Verteidiger die Vorwürfe zurück. Zudem förderte ein parlamentarischer Untersuchungssauschuss chaotische Zustände bei der Krisenbewältigung durch die Landesregierung rund um SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer zutage.
Unter anderem versuchen die Strafverfolger immer noch zu klären, warum am frühen Morgen des 15. Juli zwölf Menschen einer Wohngruppe im Erdgeschoss des LHH-Haupthauses in Sinzig qualvoll ertrinken mussten. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft bekundete auf Anfrage, dass die Polizei mittlerweile einen Zwischenbericht vorgelegt habe, der noch ausgewertet werde. Eine abschließende Beurteilung des Falles stehe noch aus.
Kurz nach der Katastrophe hatte der Geschäftsführer des Trägervereins Lebenshilfe, Stefan Möller, öffentlich erklärt, das Gebäude hätte auf Bitten der Feuerwehr eigentlich evakuiert werden sollen, eine Nachtwache sei im Nachbarhaus gewesen. „Doch als der Mitarbeiter rüber ist, kam die Flutwelle - er kam nicht mehr raus und konnte keine Hilfe leisten", sagte Möller. Das Erdgeschoss des Gebäudes in Sinzig sei so schnell und mit solcher Wucht vollgelaufen, dass die Bewohnerinnen und Bewohner kaum eine Chance gehabt hätten, betonte der Verein.
Wurden rechtzeitige Warnungen der Feuerwehr ignoriert?
Der Blick in Ermittlungsakten sowie Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ zeichnen kein so eindeutiges Bild. So steht unter anderem die Frage im Raum, ob der LHH-Pfleger rechtzeitige Warnungen der Feuerwehr ignoriert haben könnte.
Auch bleibt die Frage, warum in der Flutnacht nur eine Nachtwache im Lebenshilfehaus mit 28 Bewohnern und seinen drei Trakten nach dem Rechten schaute. Und dies trotz der Hochwasserwarnungen, die bereits am Tag vor Beginn der Starkregenfälle kursierten. Zudem scheinen die Vorgesetzten des Betreuers die Lage falsch eingeschätzt zu haben, als die Hochwasserwelle heranrauschte.
Gruppenleiterin half ihrem Bruder und ging dann zu Bett
So erklärte eine LHH-Gruppenleiterin in ihrer Vernehmung, dass um 22 Uhr am Abend des 14. Juli die Übergabe an die Nachtwache erfolgte. Dies sei so üblich. Sie selbst machte zwei Stunde früher Feierabend und fuhr nach Hause. Elf Kilometer oberhalb von Sinzig spitzte sich die Lage bereits zu. Zu Hause angekommen bat ihr Bruder aus Bad Neuenahr darum, seine Frau und sein Kind zur Schwiegermutter in Sicherheit zu bringen. Der Mann der Gruppenleiterin übernahm den Job. Als er zu seinem Schwager zurückkehren wollte, versperrten ihm die Wassermassen die Weiterfahrt.
Die Gruppenleiterin selbst ging anschließend zu Bett. Um die LHH-Anlage habe sie sich zunächst keine Sorgen gemacht, die läge ja 200 Meter vom Ahr-Ufer entfernt. Erst um 23.30 Uhr weckte eine Nachbarin der Einrichtung die Gruppenleiterin und übersandte eine KATWARN-Meldung. Else Müller (Name geändert) sorgte sich um ihre Schwester, die ebenfalls in dem Behindertenheim lebte. Die Warnung lautete: 50 Meter links und rechts der Ahr müssten die Häuser geräumt werden.
Aussagen widersprechen sich
Aufgeschreckt rief die leitende Betreuerin bei der Nachtwache an. Der Pfleger beruhigte seine Chefin. Die Feuerwehr sei da gewesen, habe aber eine Evakuierung nicht für notwendig gehalten, sagt die Gruppenleiterin. Ein Feuerwehrmann aus Sinzig berichtet gut einen Monat nach der Katastrophe genau das Gegenteil in seiner Vernehmung.
Demnach habe er zwischen 23 und 23.30 Uhr beim Portal des LHH geklingelt. Ein Mann mit Baseballkappe sei erschienen. Der Zeuge will den Betreuer vor einer Flutwelle gewarnt habe. Zwar wisse man nicht genau, wie hoch das Wasser noch steigen werde, aber besser sei es, die Leute aus dem Erdgeschoss des Haupthauses nach oben in den ersten Stock zu verlegen. Der Wehrmann kannte sich im Gebäude aus, da er in der Vergangenheit bereits Brandschutzübungen durchgeführt hatte. Von daher wusste er auch, dass die untere Etage sehr tief lag.
Glaubt man seiner Aussage, stieß seine Warnung auf taube Ohren. Der LHH-Betreuer soll sich demnach geweigert haben, das Erdgeschoss im Haupthaus zu räumen, da dann Unruhen unter den Heiminsassen zu befürchten seien. Zweifelnd soll er nachgefragt haben, ob das Wasser denn wirklich so hoch steigen könne. Nichts Genaues sei bekannt, antwortete der Feuerwehrmann, aber besser sei es, den unteren Bereich zu räumen.
Betreuer beteuert, die Lage mehrfach kontrolliert zu haben
Auf Nachfrage der Ermittler schildert der Heimmitarbeiter den Sachverhalt völlig anders. Zwar sei die Feuerwehr zu jener Zeit bei ihm gewesen. Allerdings hätte man ihm nur berichtet, dass die Ahr über die Ufer treten könne. Von einer Evakuierung sei keine Rede gewesen. Der Betreuer beteuerte, dass er fortan mehrfach die Lage kontrolliert, aber kein Hochwasser bemerkt habe.
Derweil erhielt seine Chefin immer wieder neue Horrormeldung von Else Müller, der Schwester einer der Heimbewohnerinnen. Um 0.33 Uhr sie der Gruppenleiterin mit, dass die Einsatzkräfte oberhalb von Sinzig in Neuenahr alle Brücken gesperrt hätten, die Flut näherte sich. Die Chefbetreuerin unternahm weiterhin nichts: Sie habe das Ausmaß nicht realisiert, gibt sie später zu Protokoll. „Ich habe gar nicht daran gedacht, dass das bis nach Sinzig kommt.“
Und so vergingen weitere wichtige Stunde, ehe die Verantwortlichen im LHH endlich reagierten. In einer Befragung durch die Polizei gab der Betreuer an, dass gegen halb drei Uhr in der Nacht erneut Feuerwehrleute gekommen seien und ihn vor der Flut gewarnt hätten. Darauf habe er umgehend reagiert. Nach eigenen Angaben ist er dann rüber ins Nebenhaus gegangen, lotste vier Bewohner in den ersten Stock und verschanzte sich dort. Ferner telefonierte er mit seiner Vorgesetzten, um ihr zu erklären, dass im Haupthaus unten im Erdgeschoss immer noch eine ganze Gruppe durch das hereinströmende Wasser bedroht sei. In dem Gespräch habe er darauf gedrängt, die eingeschlossenen Menschen zu retten. Doch seine Gruppenleiterin hielt ihn angeblich mit dem Hinweis zurück, dass dies zu gefährlich sei.
Betreuer soll sich zunächst geweigert haben
Wie der Kölner Stadt-Anzeiger erfuhr, schildern Feuerwehrkreise eine ganz andere Version der Abläufe in der Flutnacht. Nach dem ersten Besuch ihres Kollegen gegen 23 Uhr hätten zwei weitere Einsatzkräfte zwischen zwei Uhr und 2.30 Uhr gegen die Tür des Haupthauses der Einrichtung geschlagen und getreten. Die Klingel war ausgefallen. Erst nach etwa fünf bis zehn Minuten habe der Betreuer die Tür geöffnet. Die Einsatzkräfte hätten ihn aufgefordert, sie zum Nebenhaus zu begleiten, um auch die dortigen Bewohner zu wecken und in Sicherheit zu bringen. Der Betreuer habe sich zunächst geweigert und behauptet, dass er das Haus nicht verlassen dürfe. Dann telefonierte er mehrere Minuten mit seiner Chefin.
Erst auf Drängen der Feuerwehrleute habe er das Gespräch beendet und sei mit ihnen zum Nebenhaus geeilt. Nach einem weiteren Kontakt zu seiner Chefin habe der Mann den Feuerwehrmännern versichert, allein klarzukommen.
Danach verließen die beiden Rettungskräfte die Anlage, um die Häuser in der Nachbarschaft aufzusuchen und auftragsgemäß so viele Bewohner wie möglich vor der nahenden Flut zu warnen. Die Lebenshilfe wollte auf Anfrage dieser Zeitung „wegen der noch nicht abgeschlossenen Verfahren der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und des Untersuchungsausschusses“ zu dieser Aussage keine Stellung nehmen.
Der Pegel stieg derweil stetig an. Straßen und Häuser liefen voll. Gegen 3.15 Uhr setzten sich fünf Feuerwehrmänner auf ihren Traktor mit Plateauanhänger und versuchten, sich zum überfluteten Lebenshilfehaus durchzukämpfen. Vor dem Haupthaus mussten sie allerdings wegen der reißenden Strömung den Rettungsversuch abbrechen. Das Erdgeschoss stand zu diesem Zeitpunkt längst komplett unter Wasser.