100 Stunden gilt als magische Grenze, um nach Erdbeben noch Überlebende zu finden – eine Frau wurde nach 104 Stunden befreit. Ein Wunder mitten im Elend.
Deutschen Helfern gelingt „Wunder“Frau 104 Stunden nach Erdbeben geborgen
In einer dramatischen Bergungsaktion haben deutsche Helfer nun eine Frau in der Südosttürkei aus den Trümmern befreit – nach mehr als 104 Stunden. Ein Helfer spricht von einem „Wunder“. Es ist ein Lichtblick in der Verzweiflung, die im Katastrophengebiet herrscht.
Um 12.35 Uhr haben sich die ganze Mühen, der Stress, die Schlaflosigkeit und auch die Gefahren ausgezahlt, die die deutschen Einsatzkräfte auf sich genommen worden. Dann gelingt es ihnen exakt 104 Stunden und 18 Minuten nach dem verheerenden Erdbeben, aus den Trümmern eine Ruine in der südosttürkischen Stadt Kirikhan eine Überlebende zu retten.
Wenige Geschichten im Katastrophengebiet haben derzeit ein gutes Ende, diese aber schon. Mehr als 50 Stunden haben die deutschen Helfer fieberhaft daran gearbeitet, die 40-Jährige namens Zeynep zu befreien. Als sie im Krankenwagen ist, fallen sich die Helfer in die Arme, vielen von ihnen kommen die Tränen.
Kölner Hundeführerin an Rettung beteiligt
Die Spürhunde der deutschen Hilfsorganisation Isar (International Search and Rescue) haben Zeynep am Mittwochmorgen um 6 Uhr gefunden – knapp 50 Stunden nach dem Erdbeben. Hundeführerin Tamara Reiher (32) aus der Nähe von Köln sagt noch kurz vor der Bergung: „Wir freuen uns so darauf, mal ihr Gesicht zu sehen.“
Zeynep liege mit dem Kopf von den Helfern weggedreht auf dem Rücken. „Die Frau hat extreme Stärke bewiesen. Die ist so zäh und hat so viel Willenskraft, die muss hier einfach rauskommen.“ Ihre Kollegin Stephanie Schmitt (38) aus München sagt: „Hoffnung ist, was uns jetzt am meisten vorwärtsträgt.“
In den Trümmern des einst vierstöckigen Gebäudes, unter denen Zeynep liegt, werden mehrere Tote vermutet - darunter auch Angehörige der 40-Jährigen. Vor der Ruine haben sich Menschen versammelt, die auf Nachrichten ihrer Angehörigen warten, darunter auch Zeyneps Schwägerin Kesban. Kesban sagt, in den Trümmern würden noch die beiden Söhne und die Töchter Zeyneps sowie der Ehemann vermisst.
Die Isar-Helfer in Deutschland – allesamt unbezahlte Freiwillige - sind am Montag schon kurz nach dem Beben alarmiert worden. In der Nacht zu Dienstag sind 43 von ihnen mit sieben Spürhunden und 15 Tonnen Ausrüstung von Köln-Bonn aus nach Gaziantep geflogen. Vor Zeynep hätten sie bereits drei weitere Menschen lebendig geborgen, sagt Sprecher Jan-Philipp Braun am Einsatzort. Darunter sei auch ein 16-Jähriger gewesen, der ohne die Hunde womöglich gar nicht entdeckt worden wäre. „Der war unverletzt und hat seine türkischen Freunde mit „Merhaba„ begrüßt“, sagt Braun. „Den hätte man sonst erst nach Tagen gefunden, wenn überhaupt.“
Über einen Versorgungsschacht bekommt die Verschüttete Saft
Die Isar-Helfer haben einen Versorgungsschacht zu Zeynep gegraben, über den sie auch kommunizieren. Mit Infusionsschläuchen, Plastikflaschen und Panzerband haben sie eine Konstruktion gebastelt, über die die Verschüttete Fruchtsaft trinken kann. Über den Schacht klebt ein Zettel mit türkischen Wörtern, mit denen die deutschen Helfer Zeynep Mut zusprechen. Sollte es ein Nachbeben geben, müssten sich die Rettungskräfte schnell in Sicherheit bringen. Zeynep bliebe dann wieder alleine unter den Trümmern zurück.
Die Bergung wird am Freitag nicht von Nachbeben erschwert, sondern von türkischen Bergungskräften. Sie haben an einer benachbarten Ruine einen Bagger im Einsatz, um nach Verschütteten zu suchen. Zwischen ihnen und den Isaf-Helfern kommt es zur erhitzten Diskussion. Der Bagger droht, die Ruine mit Zeynep weiter zum Einsturz zu bringen. Die Deutschen argumentieren, sie versuchten, ein Menschenleben zu retten. Die Türken wollen die Arbeit mit dem Räumgerät nicht einstellen, weil sie ebenfalls auf die Bergung von Überlebenden hoffen. Dass die Isar-Hunde bei ihrer mehrfachen Suche in dem Gebäude nichts mehr gefunden haben, überzeugt sie nicht. Erst als die Armee einschreitet, pausiert der Bagger. Einer der türkischen Helfer sagt den Deutschen: „Bitte beeilen Sie sich.“
Kurz darauf bricht sich bei einem aufgebrachten jungen Mann seine Verzweiflung Bahn. „Sie sind aus Deutschland gekommen und trinken Tee“, brüllt er. In Wahrheit sind die 43 Isar-Helfer in Kirikhan in zwei Schichten rund um die Uhr im Einsatz. „Wir haben dessen Haus gestern Abend mit Hunden abgesucht“, sagt Braun mit Blick auf den jungen Mann. Dort seien keine Überlebenden mehr gefunden worden. „Wenn uns jetzt jemand sagen würde, in zehn Kilometern ist eine Schadensstelle mit Hinweisen auf Überlebende, dann würden wir da mit den Hunden hinfahren.“ Das sei aber nicht der Fall.
Später riegeln Soldaten mit Schnellfeuergewehren den Einsatzort der deutschen Helfer ab. Auch Reiher sagt, leider hätten die Isar-Helfer aber keine Hinweise mehr auf weitere Überlebende. „In der Nacht haben wir noch andere Gebiete mit den Hunden abgesucht. Es gab aber keine Auffälligkeiten mehr. Es ist natürlich schwierig, so eine Botschaft zu überbringen.“
Wunder gibt es auch noch nach sechs Tagen
Am Montag um 4.17 Uhr hat die Erde im türkisch-syrischen Grenzgebiet gebebt. Am Freitag um 8.17 Uhr sind 100 Stunden vergangen – die Frist gilt Helfern als magische Grenze, um noch Überlebende zu bergen. Nach dieser Zeit ist der Körper dehydriert. „Es gibt auch nach sechs Tagen noch Wunder“, sagt Reiher. Dann müssten die Verschütteten aber in einem Hohlraum mit Zugang Wasser sein. Isar-Sprecher Braun sagt: „Das ist aber die absolute Ausnahme. Das ist den Kollegen einmal in 30 Jahren passiert, aber bei einer anderen Witterung.“ Im Katastrophengebiet herrscht nachts Frost.
Trotzdem gelingt es, Zeynep zu retten. Nach der erfolgreichen Bergung kommen auch Braun die Tränen. „Das ist ein Wunder“, sagt er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Das ist etwas ganz Besonderes.“ Sein Kollege Steven Bayer sagt, für dieses eine Menschenleben habe sich schon der ganze Einsatz gelohnt. „Stunden und Tage haben wir auf diesen Moment hingearbeitet.“ Dann habe es nur Sekunden gedauert, bis Zeynep aus den Trümmern befreit und im Krankenwagen gewesen sei. „Der Moment ist unbeschreiblich.“ Isar-Teamleiter Steven Bayer sagt: „Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas erleben würde.“