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KriminalitätBritische Frauen kämpfen weiter gegen Gewalt

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Demonstration in London gegen Gewalt gegen Frauen

London – Entführt, vergewaltigt und getötet von einem, der eigentlich beschützen sollte: Der Mord an der Londonerin Sarah Everard durch einen Polizisten sandte Schockwellen durch Großbritannien. „Sie war bloß auf dem Weg nach Hause“ (original: „She was just walking home“) entwickelte sich zum Kampfslogan, mit dem Tausende Frauen ihrer Wut und Empörung Ausdruck verliehen. Trotz des Corona-Lockdowns gingen die Britinnen im März 2021 in großer Zahl auf die Straße, selbst Herzogin Kate ließ sich blicken. Das alles ist nun ein Jahr her – was ist seitdem passiert?

Von Polizisten auf Nachhauseweg angehalten

Das grausame Schicksal der 33-jährigen Sarah Everard, die am 3. März des vergangenen Jahres von einem Polizisten auf dem Nachhauseweg angeblich wegen eines möglichen Bruchs der Corona-Regeln angehalten wurde und danach verschwand, war für viele der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Doch auch nach dem öffentlichen Aufschrei und dem politischen Versprechen, dem Kampf gegen Gewalt an Frauen hohe Priorität einzuräumen, riss die Serie der Morde nicht ab.

Im September sorgte der Fall der Grundschullehrerin Sabina Nessa für Aufsehen, die auf dem Weg in einem Park niedergeschlagen, ins Unterholz geschleppt und ermordet wurde. Auch der Mord an zwei Schwestern durch einen Satanisten löste einen Aufschrei aus – und das sind nur die prominentesten Fälle.

Nach den Auswertungen des Projektes „Counting Dead Women“ der Aktivistin Karen Ingala Smith sind 2021 mindestens 140 Frauen getötet worden, bei denen ein Mann der Verdächtige ist. Das sind demnach mehr als in den Vorjahren. Die sexuellen Übergriffe, die in England und Wales bis Ende September 2021 verzeichnet wurden, stiegen dem nationalen Statistikamt zufolge im Jahresvergleich um zwölf Prozent.

Höchststand an sexuellen Übergriffen

Sie erreichten mit 170 973 Fällen innerhalb von zwölf Monaten sogar einen neuen Höchststand. Mehr als ein Drittel der Fälle waren Vergewaltigungen. Die Statistiker halten es allerdings für möglich, dass mehr Fälle angezeigt wurden, seitdem das Thema so große Aufmerksamkeit bekommen hat.

„Die Daten zeichnen ein düsteres Bild, aber wir wissen, dass Gewalt gegen Frauen und Mädchen nicht unvermeidbar ist“, sagte Andrea Simon, die Chefin der Organisation End Violence Against Women Coalition, am Jahrestag des Everard-Mordes. „Mit Mut und entsprechender Führung der Mächtigen könnten wir sie beenden.“ Dazu seien jedoch entsprechende Aufklärung in Schulen und wirksame Gesetze notwendig, um Frauen etwa vor Missbrauch im Internet zu schützen. „Für einen Moment fühlte es sich im vergangenen Jahr so an, als würde die Regierung zuhören und endlich etwas Wirksames unternehmen.“ Dann seien jedoch nur oberflächliche Maßnahmen gefolgt wie mehr Geld für Überwachungskameras oder eine höhere Polizeipräsenz an einigen Orten.

Aufklärungskampagne der Regierung

Auch die Labour-Politikerin Yvette Cooper kritisierte, die Pläne der Regierung gingen nicht weit genug. Innenministerin Priti Patel, die jetzt eine offizielle Aufklärungskampagne mit dem Titel „Genug“ (Original: „Enough“) auf den Weg brachte, gab sich tatkräftig. „Viel zu lange ist die Verantwortung für die eigene Sicherheit auf die Schultern von Frauen und Mädchen abgewälzt worden“, sagte sie.

Ihre Regierung will das Thema Gewalt gegen Frauen zu einer zentralen Säule der Polizeiarbeit machen – auf einer Stufe mit Terrorismus und Kindesmissbrauch. Wie sich das konkret im Alltag niederschlägt, dürfte auch von der neuen Führung der einflussreichen Londoner Polizei abhängen. Für die geschasste und viel kritisierte Scotland-Yard-Chefin Cressida Dick ist bislang noch keine Nachfolge bekannt.

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Blumen für die getötete Sarah Everard im Clapham Common Park in London

Die Rolle der britischen Polizei und ihr Umgang mit Frauen waren nicht nur durch den schockierenden Mord durch einen Beamten stark in den Fokus gerückt. Bei der Mahnwache für Sarah Everard gingen Polizisten harsch gegen teilnehmende Frauen vor. Auch in anderen Polizeidirektionen gab es immer wieder Berichte über sexistisches und frauenfeindliches Verhalten von Polizisten.

Frauen fühlen sich von der Justiz im Stich gelassen

Auch von der Justiz fühlen sich viele Frauen, die Gewalt erlebt haben, im Stich gelassen. Ein offizieller Untersuchungsbericht warf dem Rechtssystem kürzlich schwere Versäumnisse vor.

„Vergewaltigungsopfer werden von der Strafjustiz kontinuierlich und systematisch im Stich gelassen“, lautete das Urteil der Aufsichtsbehörden. Im Schnitt dauert es demnach vom Zeitpunkt, an dem ein Fall bei der Polizei angezeigt wird, fast zwei Jahre (706 Tage), bis ein Verfahren vor Gericht beginnt. Die Aufsicht schlägt vor, zumindest zeitweise Gerichte zu etablieren, die sich ausschließlich Vergewaltigungsfällen widmen, um den Rückstau abzuarbeiten.

„Es ist inakzeptabel, dass so viele Frauen und Mädchen noch immer Gewalt und Missbrauch fürchten und erfahren, die Angreifer müssen zur Verantwortung gezogen werden“, schrieb Premierminister Boris Johnson auf Twitter und sprach Sarah Everards Familie erneut sein Mitgefühl aus.

Auch im Londoner Süden, wo Sarah Everard vor einem Jahr verschwand, sitzt der Schock über das Verbrechen noch immer tief. Eine Gruppe von Frauen will von Clapham nach Brixton marschieren, um erneut auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufmerksam zu machen. „Wir brauchen einen dramatischen gesellschaftlichen Wandel, wie wir über männliche Gewalt reden, und wir müssen aufhören, sie als Frauensache abzutun“, sagte eine der Organisatorinnen, Freya Papworth, dem Online-Portal „South London Press“». Bis sich dieser Wandel in den Statistiken erkennen lässt, kann es noch dauern. (dpa)