Das Erdbeben in der Türkei zeigte: Die Natur ist stärker als der Mensch. Und sie ist unberechenbar: Auch heute lassen sich Erdbeben nicht genau prognostizieren.
Experte über Erdbebengefahr„Ein wirkliches Frühwarnsystem wird es auch in Zukunft nicht geben“

Zerstörungen in Hatay nach dem Erdbeben in der Südtürkei.
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Nachdem Anfang Februar die Erde in der Türkei und in Syrien bebte und Zehntausende Menschen starben, verbreiteten sich im Internet abenteuerliche Gerüchte: Über Wissenschaftler, die das Erdbeben angeblich vorhergesagt hätten. Über westliche Politiker, die das Beben absichtlich verursacht hätten. Über eine angebliche gezielte Bestrafung der Türkei durch eine Naturkatastrophe.
In Wirklichkeit zeigt die Katastrophe einmal mehr, dass Erdbeben kaum vorhersehbar sind - und wie grausam ihre Folgen. Bis heute gibt es keine Möglichkeit, rechtzeitig vor einem Beben zu warnen. Auch in naher Zukunft wird es kein Frühwarnsystem geben, sagt Sebastian Busch, Erdbebenexperte beim Geologischen Dienst in Nordrhein-Westfalen.
Berühren sich Kontinentalplatten, entsteht Druck – entlädt sich die Spannung, bebt die Erde
Der Grund für die katastrophalen Auswirkungen an der Erdoberfläche liegt viele Kilometer tief im Erdinnern. Dort schwimmen die Kontinentalplatten. „Man kann sich die Kontinentalplatten wie Surfbretter vorstellen, die auf dem Erdmantel schwimmen und sich langsam fortbewegen“, sagt Busch. Berühren sich zwei Platten, können sie sich an ihren Enden verhaken und verzahnen. Dadurch werden sie in ihrer Bewegung gestört, sie hängen fest.
Zwischen den Platten entsteht ein großer Druck. „Diesem Druck halten die Erdplatten eine gewisse Zeit stand“, so Busch. Doch irgendwann würden die Plattenränder brechen wie ein überbogenes Knäckebrot. Dann entlädt sich die Spannung mit voller Wucht, die Platten befreien sich voneinander - und die Erde bebt.
Nur grobe Prognosen möglich
Das Problem ist: Dieser Bruch, das Beben, kündigt sich vorher nicht an. Manchmal, sagt Busch, werden vor dem großen Beben kleinere Vorbeben registriert. Doch auch diese Vorbeben sind kein zuverlässiges Warnsystem. Denn kleine Beben sind nichts Besonderes und nur extrem selten Vorboten einer größeren Katastrophe. Für eine systematische Frühwarnung, sagt Busch, „ist der Erdkörper zu komplex“.

Sebastian Busch, Erdbeben-Experte des Geologischen Dienstes in NRW.
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Die Forscher können deshalb nur sehr grobe Prognosen für Erdbeben erstellen. Dabei arbeiten sie mit zwei Werkzeugen: Der instrumentellen und der historischen Seismologie. Erstere beschreibt ein Netzwerk aus Seismografen, die in Erdbebengebieten stehen. Allein in der niederrheinischen Bucht, einem der vier deutschen Erdbebengebiete, stehen 15 Seismografen. Dort registriert der Geologische Dienst zwei bis drei kleine Erdbeben pro Woche, viel zu schwach, um sie ohne sensible Geräte wahrzunehmen. Erst ab einer Magnitude von 2,5 gilt ein Erdbeben als spürbar.
In Kombination mit dem Wissen über frühere Erdbeben können Forscher Wiederkehrperioden von Beben in gefährdeten Gebieten festlegen. Das bedeutet, sie berechnen eine ungefähre Spanne an Jahren, die zwischen zwei Beben normalerweise vergeht. Eine präzise Vorhersage ist das nicht - das Beben kann auch fünfzig Jahre früher oder später auftreten.
Im 18. Jahrhundert bebte die Erde in Düren mit einer Stärke von 6,4
Für die niederrheinische Bucht gilt beispielsweise folgende Prognose: Alle 100 bis 150 Jahre tritt ein Erdbeben mit einer ungefähren Stärke von sechs auf. „Ein Musterbeispiel ist das Roermond-Erdbeben von 1992“, sagt Busch. „Das hatte eine Magnitude von 5,9 und war auch in weiten Teilen von Nordrhein-Westfalen spürbar.“ Bei dem Beben 1992 wurden 30 Menschen verletzt und zahlreiche Gebäude - auch in NRW - beschädigt.

Ein gewaltiges Erdbeben erschütterte 1992 auch das Rheinland. Dieser PKW in Bonn wurde durch herabfallende Steine eines Gebäudes stark demoliert (Archivbild).
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In alten Klosterschriften sind sogar Erdbeben von einer Stärke von bis zu sieben in NRW beschrieben. „Das sind aber Ereignisse aus dem 17. und 18. Jahrhundert, bei denen die Magnitude mit einer sehr hohen Unsicherheit verbunden ist“, sagt Busch. In Düren wurde beispielsweise 1756 ein Erbeben der Stärke 6,4 registriert.
Doch auch wenn die niederrheinische Bucht als erdbebengefährliches Gebiet gilt: Im internationalen Vergleich, sagt Busch, ist die Gefahr durch Erdbeben in Nordrhein-Westfalen sehr gering.