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Ärzte-FehlerRekordsumme an Schmerzensgeld für den zehnjährigen Taylor

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Taylor und seine Mutter Julia Jannaschk

Limburg/Köln – „Der Junge kann nicht sprechen, nicht laufen. Er kann sich kaum bewegen, sich nicht selbst waschen und pflegen. Rund um die Uhr ist er auf fremde Hilfe angewiesen. Seine Gefühle und Gedanken kann er nur eingeschränkt äußern. Selbst Essen und Schlafen sind für ihn infolge von Schluckbeschwerden und Epilepsie mit Angstzuständen verbunden. Spielen mit seinen Eltern, Geschwistern oder anderen Kindern, der Besuch eines Kindergartens oder einer normalen Schule, der Aufbau von regulären Sozialbeziehungen zu Gleichaltrigen sind ihm verwehrt. Die besondere Tragik liegt darin, dass einem noch so jungen Menschen jegliche Perspektive auf ein normales Leben genommen wurde.“

Es ist bemerkenswert, wie akribisch das Landgericht in Limburg an der Lahn die Folgen auflistet, mit denen der zehnjährige Taylor leben muss, seitdem er im Alter von fast zwei Jahren wegen eines Infektes im örtlichen Krankenhaus behandelt wurde. Bei der Gabe eines Antibiotikums hatte er derart geweint und geschrien, dass er sich an einem gerade verzehrten Stück Apfel und ein paar Chips verschluckte.

Der Junge musste reanimiert werden

Die Krankenschwester habe gewusst, dass das Kind kurz zuvor gegessen hatte, schreibt das Gericht im jetzt versandten Urteil. Sie hätte damit rechnen müssen, dass sich der Junge über die Medikamentengabe aufregen könnte und daher damit länger warten müssen, um ein mögliches Verschlucken von Speiseresten zu verhindern. Die dann eingeleiteten Rettungsmaßnahmen seien zudem „fehlerhaft und in der durchgeführten Form sogar schädlich gewesen“.

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Unter anderem schüttelte die Krankenschwester das Kind, wodurch die „Fremdkörper nur noch tiefer in den Hals- und Rachen des Jungen rutschten“, so das Gericht. Taylor, der keine Luft mehr bekam, musste schließlich reanimiert werden. Sein Gehirn wurde schwer geschädigt, weil es minutenlang kaum Sauerstoff bekam.

Rekordsumme in Deutschland

Auch wenn das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, die verurteilte Krankenschwester oder das Krankenhaus in Berufung gehen könnten: Ein Schmerzenzgeld in Höhe von einer Million Euro hat ein deutscher Richter in der Geschichte der Bundesrepublik bei einem ärztlichen Kunstfehler noch nie verhängt.

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Der zehnjährige Taylor im Rollstuhl am Küchentisch

„Die Million war die Schallgrenze, an die hatte sich bisher noch niemand rangetraut“, sagt der Kölner Rechtsanwalt Boris Meinecke, der den Jungen vor Gericht vertreten hat. Er wolle keine „amerikanischen Verhältnisse“, wo es schon wegen Verbrühungen durch einen heißen Kaffee zu Millionenklagen komme. „Aber ich hoffe sehr, dass dies jetzt Signalwirkung hat, vor allem wenn es um durch Arztfehler schwerstgeschädigte Kinder geht.“

Erheblicher Ermessensspielraum für Richter

Bei der Festlegung von Schmerzensgeld haben deutsche Richter einen erheblichen Ermessenspielraum. Für eine fehlerhaft eingesetzte Hüftprothese beispielsweise setzte das Landgericht Freiburg 25.000 Euro an, das Oberlandesgericht Köln nur 5000 Euro.

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Der Kölner Rechtsanwalt Dr. Boris Meinecke

Jeder Fall wird einzeln bewertet, es gibt keine verbindlich festgelegten Schmerzenzgeld-Summen. Für eine Brandblase am rechten Sprunggelenk beipielsweise musste ein Heilpraktiker 2500 Euro zahlen (LG Bonn), 3500 Euro erhielt eine Patientin nach dem Verlust des Geruchsinns (OLG Köln). Für eine Trümmerfraktur des Halswirbels mit drohender Querschnittslähmung gab es 7500 Euro (OLG Oldenburg). 40.000 Euro erhielt ein Krankenhauspatient, der aufgrund nicht beachteter Hygienevorschriften mit multiresistenten Keimen infiziert wurde (OLG Hamm).

800.000 Euro wegen amputiertem Unterschenkel

Als er vor etwa drei Jahrzehnten als Anwalt angefangen habe, seien 250.000 D-Mark „das Höchste der Gefühle“ gewesen, sagt Medizinrechtexperte Meinecke. „Wer beispielsweise zeitweise im Koma lag, der bekam 50.000 Mark, mit der zynischen Begründung, er habe ja vermutlich nichts mehr mitbekommen.“

Auskunft verlangen: Jeder Patient hat das Recht, seine Behandlung juristisch und medizinisch auf Fehler überprüfen zu lassen. Haben Sie einen Verdacht, verlangen Sie Informationen. Ärzte sind verpflichtet, Auskunft zu geben. Eine Zweitmeinung bei einem anderen Arzt einzuholen, kann ebenfalls hilfreich sein.

Beweise sichern: Um Schadenersatz und Schmerzensgeld durchzusetzen, müssen Sie belegen, dass ein Fehler passiert ist, Sie einen Schaden dadurch erlitten haben und der Schaden auf einen Behandlungsfehler zurückzuführen ist. Sichern Sie Beweise. Notieren Sie, wer an der Behandlung beteiligt war und wie Sie aufgeklärt wurden. Notieren sie gegebenenfalls auch Name und Anschrift von Mitpatienten.

Beratung: Kostenfreien Rat bekommen Sie bei der Unabhängigen Patientenberatung www.patientenberatung.de.

Krankenkasse: Informieren Sie Ihre Krankenkasse, wenn Sie einen Behandlungsfehler vermuten. Sie haben ein Recht auf ein kostenfreies Gutachten vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen.

Frist beachten: Ab Kenntnis eines vermuteten Behandlungsfehlers haben Sie drei Jahre Zeit, um Ihre Ansprüche anzumelden.

Quelle: Stiftung Warentest

Erst in den letzten Jahren sei durch einzelne Entscheidungen „Bewegung in die Schmerzenzgeld-Rechtsprechung gekommen, vor allem wenn es um Kinder ging“. So setzte das Oberlandesgericht Frankfurt 2014 für ein Baby, das wegen Fehlern bei der Geburt schwerstbehindert ist, insgesamt 700.000 Euro an. Und 2020 musste das Klinikum Emden einem Jungen, dem wegen einer im Krankenhaus zu spät behandelten Blutvergiftung beide Unterschenkel amputiert werden mussten, nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichtes Oldenburg rund 800.000 Euro zahlen.

Beklagte Krankenschwester und Klinik bestreiten Schuld

Zusätzlich zum Schmerzenzgeld hat das Gericht in Limburg entschieden, dass Taylor „sämtliche künftigen unvorhersehbaren immateriellen sowie alle vergangenen und künftigen materiellen Schäden, die ihm infolge einer fehlerhaften Behandlung entstanden sind beziehungsweise noch entstehen werden“, zu ersetzen seien. „Ich konnte es gar nicht fassen, als ich am Dienstag über das Urteil informiert wurde“, sagte Julia Jannaschk, die Mutter des Jungen, dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Sie lebt von Hartz 4, weil sie Taylor seit Jahren pflegt und nicht in ein Heim geben will. Ihre Ehe sei „darüber kaputt gegangen“, auch ihre anderen Kinder würde die Situation stark belasten.

„Wenn es bei der Entscheidung bleibt, haben wir wenigstens keine finanziellen Sorgen mehr“, so Jannaschk. Pflege rund um die Uhr beispielsweise, behindertengerechtes Umfeld oder ein Verdienstausfall für Taylor, der niemals wird arbeiten können: „Vorausgesetzt, der Junge wird 50 bis 60 Jahre alt, wird dies locker noch einmal fünf Millionen Euro oder mehr kosten“, weiß Anwalt Meinecke. Die Gegenseite hatte, wie in Verfahren zu ärztlichen Kunstfehlern nicht selten, jegliches Verschulden für Taylors Behinderungen abgestritten und beim Richter in Limburg beantragt, die Klage des Jungen abzuweisen.