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Im hintersten WinkelWarten auf das Kriegsende im Erdwall

Lesezeit 6 Minuten

Un­ter­ge­taucht: Menschen un­ter­schied­lichs­ter Herkunft ver­steck­ten sich im im deutsch-​nie­der­län­di­schen Grenz­ge­biet und warteten auf das Endes des Krieges.

  1. Von Juli 1944 bis April 1945 lebten in einem Erdwall in der niederländischen Provinz Gelderland fünf Personen auf 20 Quadratmetern.
  2. Mit unterschiedlichen Nationalitäten und Geschichten versteckten sie sich hier und warteten auf das Ende des Krieges.
  3. Der Museumsbetreiber Jan Geerdinck will unter anderem die Geschichte des Kölners Willy Warbach nochmal aufleben lassen.
  4. Aus unserer Serie: 75 Jahre Weltkriegsende.

Es geschah in einem Erdwall nahe der deutschen Grenze in der niederländischen Provinz Gelderland. Von Juli 1944 bis April 1945 lebten dort fünf Personen auf 20 Quadratmetern: Die Brüder Hemmy und Theo te Walvaart, der englische Bomberpilot Thomas Lowe, der polnische Arbeiter und Angehörige der deutschen Wehrmacht Bobby Bolasjawe und Willy Warbach, Soldat aus Köln.

„Die Brüder entzogen sich dem Arbeitsdienst in deutschen Fabriken, die beiden Wehrmachtssoldaten sind desertiert, der Engländer Lowe wurde abgeschossen“, weiß der ehemalige Kripo-Beamte Henk Hilverink. Der 73-Jährige lebt in Groenlo, einem 10.000-Einwohner-Ort nahe der deutschen Grenze. In den Sommermonaten fährt er manchmal Touristen, die auf dem nahe gelegenen Campingplatz Urlaub machen, zu dem versteckt liegenden Unterschlupf, einem Zeugnis einer kaum mehr vorstellbaren Vergangenheit.

Einheimische haben vor Jahren dafür gesorgt, dass an dem unbefestigten Feldweg, dem Brakerweg in der Bauernschaft Lievelde, zumindest eine Gedenktafel errichtet wurde, die auf den unauffälligen Verschlag in der Erde hinweist.

Ein besonderes Interesse am Kriegsgeschehen in seiner Heimat hat auch Hilverinks Freund Jan Geerdinck. In seinem Crashmuseum, ganz in der Nähe des Erdwalls, stellt er Trümmerteile von abgeschossenen Bombern aus. Einige von ihnen liegen noch immer unter den teils sumpfigen Äckern – sie grenzen an das für seine Flamingos bekannte Zwillbrocker Venn auf der deutschen Seite.

Achterhoek – direkt unter der Flugroute englischer Bomber

„In den Niederlanden wurden während des Zweiten Weltkriegs 7.500 Flugzeuge abgeschossen, 400 davon allein über dem Achterhoek“, weiß Geerdinck, der seit 1971 an seiner Ausstellung bastelt. Achterhoek – hinterster Winkel – heißt der Teil der Provinz Gelderland ganz im Osten der Niederlande, der unmittelbar an das Münsterland grenzt.

Zum Weiterlesen

Im Magazin „75 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs –  Stunde null an Rhein und Ruhr“ lesen Sie alles über die letzten Kriegswochen an Rhein und Ruhr inklusive der entscheidenden Schlachten, historischen Aufnahmen und Berichte von Zeitzeugen; dazu eine achtseitige Chronik zum Kriegsverlauf in NRW.

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Die Flugroute Richtung Ruhrgebiet, wo die Ziele englischer Bomber lagen, befand sich unmittelbar über der ländlichen Gegend, die von wenigen Ortschaften und verstreuten Bauernhöfen geprägt ist. Wie Henk Hilverink fasziniert ihn, was vor 75 Jahren vor seiner Haustür passierte. Deshalb versucht er noch heute die Biografien der Menschen zu rekonstruieren, die damals vom Schicksal ins Achterhoek verschlagen wurden.

Wie der Bomberpilot Thomas Lowe und der Kölner Willie Warbach. Der 74-jährige Geerdinck hat Papiere und Fotos von ihnen zusammengetragen, Kontakt zu Zeitzeugen und Angehörigen aufgenommen. Aus seinen Unterlagen geht hervor, dass die fünf Versteckten in dem Erdwall am Brakerweg von der Bäuerin Annie Weenink-Stoverink versorgt wurden, die den nahe gelegenen Bauernhof Braker führte.

„Jeden Abend kroch ich auf Händen und Füßen mit dem Topf Essen vor mir durch den Gang zu dem Raum, den ich als sehr beängstigend empfand. Es fühlte sich an, als wären sie lebendig begraben“, so wird Weenink-Stoverink in einem Gesprächsprotokoll zitiert, das Jan Geerdinck aufbewahrt hat. Auch ließ sie ihre Schützlinge jeden Abend gegen 20 Uhr zu sich in den Bauernhof kommen. Dabei mussten sie blaue Overalls tragen, damit sie für den Fall dass sie beobachtet würden, wie gewöhnliche Landarbeiter aussahen.

Fünf Menschen unterschiedlicher Herkunft

Die Bäuerin hatte englische Bücher besorgt, vor allem für Thomas Lowe, damit die Langeweile erträglich wurde. Die zwei Brüder verweigerten, wie viele andere Niederländer den Arbeitsdienst, der in den letzten Kriegsmonaten darin bestand, Verteidigungsanlagen gegen vorrückende Panzer der Alliierten zu bauen. Wie genau die beiden deutschen Soldaten in das Versteck geraten waren, ist unklar. Geerdinck und Hilverink wissen aus Briefen, dass der Pole zwei Mal aus einem Zug gesprungen sein soll, der ihn in ein Lager bringen sollte. „Nach dem D-Day gab es immer mehr deutsche Soldaten, die desertierten, weil sie den Glauben an den Endsieg verloren hatten“, sagt Hilverink. Auch der Kölner Willy Warbach gehörte wohl zu ihnen.

Informationen

Nationaal OnderduikmuseumMarkt 12-16, 7121 Aalten, Niederlande

Öffnungszeiten:Di bis Sa 10-17 UhrSonntag: 13 bis 17 Uhr

Wegen der Corona-Krise ist das Museum noch mindestens bis zum 20. Mai geschlossen!

Avog’s Crash MuseumEuropaveg 34,7137 HN Lievelde, Niederlande

Öffnungszeiten:Jeden ersten Sonntag im Monat von 13 bis 17 Uhr oder nach Absprache mit Jan Geerdinck: 0031/544461480

Aus Dokumenten, die die niederländische Krankenschwester Annie Lamers hinterließ, geht hervor, dass er Sudetendeutscher und in der Wehrmacht als Funker auf der Afrika-Linie eingesetzt war. Er soll an der Venloer Straße gewohnt haben. Lamers war von einem Pfarrer zu den Untergetauchten geschickt worden, da sie Englisch sprach und sich so mit Thomas Lowe verständigen konnte. Aus einem ihrer Briefe an Jan Geerdinck geht hervor, dass er nach dem Krieg nach England zurückging und später nach Kanada ausgewandert ist. Willy Warbach, der Kölner aus dem Sudetenland, soll ihn begleitet haben.

Im niederländischen Grenzstädtchen Aalten ist mutigen Helfern wie der Bäuerin Weenink-Stoverink, die täglich durch einen 500 Meter langen Tunnel kroch, um den fünf Versteckten Essen zu bringen, und ihren Schützlingen ein ganzes Museum gewidmet, das Nationaal Onderduikmuseum (Nationales Untergetauchten-Museum) . „In Aalten gab es die besondere Situation, dass der deutsche Ortskommandant in einem großen Haus am Markt residierte, während sich auf dem Dachboden Untergetauchte versteckten“, berichtet Gerda Brethouwer, die Direktorin des Museums.

Die Erinnerungen sollen nicht verblassen

Bei Fliegeralarm kamen zusätzlich die Nachbarn, um im Keller Schutz zu suchen. Das Original-Haus ist eingerichtet wie ein Wohnhaus zur Zeit der Besatzung, das Büro des Kommandanten wirkt wie eben erst von ihm verlassen. Auf dem Schreibtisch liegt noch eine Beschlagnahme-Befugnis für ein Fahrrad. In allen Räumen werden die Geschichten von Untergetauchten erzählt. „Wir versuchen große Geschichte im Kleinen erlebbar zu machen“, so Brethouwer.

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Auf dem Feldweg vor dem Erdwall, in dem durch ein Gitter der winzige Raum zu sehen ist, in dem die fünf Männer unterschiedlichster Herkunft zusammen das Kriegsende abwarteten, steht Henk Hilverink. Man kann von draußen eine Glühbirne einschalten. Der winzige Raum, in dem man nicht aufrecht stehen kann, wird sichtbar. Grobe Bretter bilden den Fußboden. „Ich glaube, dass es nicht nur in den Niederlanden mutige Leute gab, die Menschen versteckten, sondern auch in Deutschland“, sagt er und wünscht sich, dass die Erinnerung an die Menschen und jene Zeiten nicht verblassen. Wichtig sei, sich die Geschichten gegenseitig zu erzählen.

Außerdem aber möchte der ehemalige Ermittler ganz praktisch herausfinden, ob der Kölner Willy Warbach noch bekannt ist in seiner Heimatstadt. „Vielleicht gibt es ja noch Angehörige?“ fragt sich Hilverink. Die Krankenschwester Annie Lamers, die den Kontakt zu Lowe, Warbach und den anderen hielt, und Jan Geerdinck Fotos und andere Dokumente zur Verfügung gestellt hat, ist nach dem Krieg nach Venlo gezogen – in die Anne Frankstraat.

Hinweise zur Familie Warbach an: Lioba.Lepping@dumont.de