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Ohne es zu wissenWie wir alle auch heute noch von Kriegstraumata betroffen sind

Lesezeit 9 Minuten
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Eine Gruppe deutscher Kinder, die nach der Flucht ihrer Eltern in Dänemark geboren wurden, aufgenommen 1945.

  1. Nicht selten haben Kriegserfahrungen traumatische Folgen für die Beteiligten. In den wenigsten Fällen wurden diese nach Kriegsende ausreichend aufgearbeitet - mit weitreichenden Folgen.
  2. Viele Betroffene leiden ihr ganzes Leben unter den Folgen ihrer Kriegserfahrungen. Das macht sich später im Umgang mit ihren Kindern bemerkbar.
  3. Wie wir auch heute noch von den Traumata unserer Vorgenerationen beeinflusst werden, erklärt Diplom-Psychologe Peter Marx im Interview.
  4. Aus unserer Serie: 75 Jahre Weltkriegsende.

Herr Marx, der Zweite Weltkrieg hat bei etlichen Menschen für psychische Probleme gesorgt. Was genau ist überhaupt ein Trauma?Ein Trauma definiert man als ein Ereignis, das plötzlich hereinbricht, was unvorhersehbar ist und was alle seelischen Bewältigungsmechanismen überfordert. Sodass es nicht mehr möglich ist, mit dem Ereignis wirklich umzugehen. Ich stelle mir das vor wie eine Überflutung der Psyche, bei der dem nichts mehr entgegengestellt werden kann. Man reagiert dann, indem man dissoziiert. Das heißt, Menschen schalten sich ab, alle Empfindungen und Gefühle. Die Betroffenen erleben sich dann in der Regel selber so, dass sie aus ihrem Körper heraustreten und nur noch zuschauen und sehen, was mit ihnen passiert.

Und diese Traumata können im Krieg ausgelöst werden?

Auf jeden Fall. Man kennt es von den Bombennächten, wo Menschen im Bunker eingepfercht waren. Drum herum hörten, fühlten und spürten sie, dass die Bomben fallen. Es war unklar, ob sie dort jemals wieder lebendig rauskommen. Das überfordert die Seele. Auch, wenn man rauskommt und die Toten sieht. Oder eben das, was Soldaten an der Front erlebt haben.

Zur Person

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Peter Marx

Peter Marx ist Diplom-Psychologe, Psychoanalytiker, Lehranalytiker, Supervisor und Dozent am Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln e.V. und seit 1999 niedergelassen in eigener Praxis in Köln.

Wie wirken sich diese Traumata dann auf die Familien aus?

Man muss sich vorstellen, dass ein Mensch traumatisiert aus dem Krieg zurückkommt, der da schrecklichste Dinge erlebt hat. Das hat seine Psyche verändert, das hat Teile seiner psychischen Struktur verwüstet. Wenn der jetzt Vater wird, dann ist er nicht mehr in der Lage, auf das Kind entsprechend einzugehen und es in seinen Emotionen zu spiegeln, mit ihm umzugehen. Weil es Bereiche gibt, in denen er wie abgeschaltet ist.

Das heißt, er kann dem Kind kein vollständiger, kompletter Vater sein. Es kann sein, dass der Mensch Konfliktsituationen nicht mehr aushalten kann. Deswegen zieht er sich zum Beispiel vollkommen zurück, redet nicht mehr, arbeitet nur noch so vor sich hin und sagt entweder gar nichts oder er klinkt total aus. Das heißt, wenn es zum Streit kommt, dann poltert er los, dann ist es so mächtig in ihm, was da an Wut und Aggression rauskommt, dass das Kind vollkommen verschreckt ist. Weil es gar nicht weiß, was es gemacht hat.

Das macht natürlich was mit dem Kind. Ein Kind versucht immer zu gucken, wie es auf die Eltern reagieren muss, wie es für die richtig ist. Denn Kinder wollen immer die Beziehung zu ihren Eltern erhalten und wollen ihren Eltern eigentlich immer etwas Gutes tun. Wenn das Kind aber mitkriegt, dass der Vater total sauer ist, wenn es etwas Falsches sagt, dann wird es selber gucken, dass es lieber nichts sagt und passt auf, dass es den Vater nicht reizt.

Können durch das erlernte Verhalten beim Kind psychische Störungen entstehen?

Ja. Nehmen wir folgenden Fall, der häufig vorkam: Ein Junge hatte einen Vater, der im Krieg angeschossen und massiv verletzt wurde, mit bleibenden körperlichen Schäden. Das heißt, das Kind konnte mit seinem Vater nie raufen, nie boxen, weil es ab dem fünften, sechsten, siebten Lebensjahr seinem Vater körperlich überlegen war. Das hatte zur Auswirkung, dass es sehr aggressionsgehemmt war. Weil es nie gelernt hat, seine Aggressionen adäquat einzusetzen und sich auszuprobieren.

Dafür zum Beispiel sind Väter da, dass man sich auch mal körperlich messen kann. Das konnte das Kind nicht und ging dann mit einer ziemlichen Aggressionshemmung durchs Leben, die sich vor allem auf Männer bezog. Was für einen Mann, der z.B. häufig eine Karriere machen will, schwierig ist, weil er immer wieder mit Konkurrenten und Chefs zu tun hatte und sich mit denen nicht adäquat auseinandersetzen konnte.

Wie kann man diese Spirale durchbrechen, wenn Symptome von Generation zu Generation weitergegeben werden?

Das kommt auf die Schwere der Problematik an, die dann entsteht. Aber in meine Behandlung kommen Leute aus der zweiten Generation oder dritten Generation. Das heißt, deren Väter, Mütter oder Großeltern kriegstraumatisiert waren. Das braucht seine Zeit, bis so etwas überhaupt angesprochen werden kann.

Und dann ist es mit professioneller Hilfe gut, weil es im geschützten Rahmen stattfinden kann mit einem Menschen, der selber nicht involviert ist im Unterschied zu einem Familienangehörigen. Dadurch lernen sich die Patienten besser verstehen. Es bleibt für sie sonst so unbegreifbar, wieso sie überhaupt so sind, wie es passieren konnte, dass sie sich so verhalten.

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Und wenn man das dann zurückverfolgen kann, wird es plötzlich klarer. Dann befreit sich auch bei denen etwas und es kann zu Hause angesprochen werden. Die Leute können dann zum Teil mit ihren Eltern darüber reden. Und man weiß, dass je mehr über diese Traumata gesprochen werden kann, desto besser können sie auch verarbeitet werden.

Gibt es klassische Probleme, die sich durch alle Familien durchziehen? Ich nenne nur das Stichwort „Schweigende Väter“ …

Nicht durch alle, aber viele. Die Väter verstummen, ziehen sich zurück, reden wenig, schon gar nicht über sich und sind eigentlich mehr in einem Funktionsmodus drin. Sie sind aber emotional nicht mehr wirklich beweglich und offen für die Welt und ihre Familie bzw. Kinder. Es wird dann wenig geredet, viel geschwiegen.

Verhalten sich die Kinder später exakt gleich, wenn sie sich den Vater zum Vorbild nehmen?

Wenn keine anderen Traumata dazukommen, dann klingt das von Generation zu Generation ab. Weil eben der Austausch mit anderen immer mehr möglich wird, sodass die zweite, dritte Generation miteinander ins Gespräch kommen kann. Darüber, was sie von den Eltern über den Krieg erfahren hat. Und dann kommt das ins Gespräch und dann kann man sich auch darüber austauschen. Und dann wird es auch weniger im Laufe der Zeit. Aber es dauert Generationen.

Ist es überwiegend ein Problem, das Männer haben, oder gibt es auch Probleme auf mütterlicher Seite?

Auf jeden Fall. Frauen waren hier Bombenangriffen ausgesetzt. Auch auf der Flucht ist sehr viel passiert. Gewalt, sexualisierte Gewalt, Gewalt durch Bombenbeschuss und Artilleriebeschuss. Frauen sind da genauso betroffen gewesen.

Kann man sagen, dass es in damals stark bombardierten Regionen wie Köln häufiger zu Problemen kommt?

Ich habe da jetzt keine Studien im Kopf, aber ich würde davon ausgehen. In einem oberbayrischen Dorf, in dem nie eine Bombe gefallen ist, werden diese Traumata nie so aufgetreten sein wie hier in Köln, welches massiv bebombt wurde. Da war es ja so, dass viele Säuglinge oder Kinder, die ein, zwei Jahre alt waren, mit ihren Müttern im Bombenkeller waren. Die haben auch die Todesangst der Mutter gespürt.

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Früher dachte man, das Kind war so klein, das wird nicht viel mitbekommen haben. Aber das stimmt nicht. Weil auch Kleinstkinder und Säuglinge mitbekommen, wie es der Mutter geht. Vor allem, wenn man ganz nah beieinander ist. Das hat für diese Kinder schon massive Folgen gehabt.

Man sagt heutzutage, weniger die Bombe war das Bedrohliche als vielmehr die Todesangst der Mutter. Sprich hätte die Mutter weniger Todesangst gehabt, wär es für das Kind nicht so schlimm gewesen. Aber wenn man 20 Meter unter der Erde ist und es bombt drum herum, hat man natürlich diese Todesangst.

Würden Sie sagen, dass das weit verbreitete Probleme sind?

Ich würde nicht sagen, dass es sehr häufig vorkommt, aber es ist schon deutlich. Ich denke schon, dass es jedenfalls bei meinen Patienten bei 10 bis 20 Prozent ein wichtiger Punkt ist. Es ist nicht der einzige, aber ein wichtiger Punkt.

Glauben Sie, dass frühzeitige Prävention das Problem eingedämmt hätte?

Wenn man damals das Wissen und die Kapazitäten gehabt hätte, dass man die ganzen heimkehrenden Soldaten auf eine Posttraumatische Belastungsstörung untersuchen und behandeln hätte können, hätte das viel Leid verringert. Aber zu der Zeit war das noch gar nicht so groß im Bewusstsein. Und ich glaube, man wollte sich auch gar nicht so damit beschäftigen.

Gerade in Deutschland war es oft so, dass man dieses Thema weit von sich weggeschoben hat, weil man mit dieser Schuldthematik so verstrickt war. Weil es auch schwerfiel zu sagen: Ich bin traumatisiert. Man musste sich dann anhören: Du bist doch dahin gegangen und hast selber geschossen. Das war eine ganz andere Problematik als in Frankreich zum Beispiel.

Wie sieht eine Therapie denn aus?

Eine Traumabehandlung zielt darauf ab, das traumatische Geschehen erzählbar und dadurch verarbeitbar zu machen. Stellen Sie sich vor, dass das traumatische Ereignis bei den Betroffenen wie abgespalten ist. Wie in einem anderen Zimmer, wo die Tür zu ist. Man spürt vielleicht, dass da was ist, aber man traut sich nicht, die Tür aufzumachen, weil da das Grauen drin ist.

Die Traumabehandlung hat zum Ziel, dass man diese Tür Stück für Stück öffnet und das, was da drin ist, in verdaulichen Mengen rausholt. Menschen können oft nicht erzählen, was ihnen passiert ist. Manche wissen es gar nicht mehr. Und wenn man das zurück ins Bewusstsein holt und darüber geredet werden kann, dann kann das letztlich heilen.

Und so ähnlich geht man dann auch bei den Leuten vor, die in der Folgegeneration darunter leiden. Dass man da auch versucht, es erklärbar zu machen, dass die Personen versuchen mit dem Vater oder dem Großvater ins Gespräch zu kommen. Damit klar wird: Er konnte sich mir gegenüber gar nicht anders verhalten. Dadurch wird von der betroffenen Person viel Last genommen.

Einfach gesagt: Wenn der Vater sich dem Kind gegenüber schlecht verhält, sucht das Kind die Schuld in der Regel erst mal bei sich. Das prägt das Selbstbild. Wenn dann später deutlich wird, der Vater hat ein Verhalten gezeigt, was Folge eines traumatischen Erlebnisses war, also nicht das, was ein Mensch normalerweise gezeigt hätte, kann das Kind sehr viel Schuld von sich nehmen.

Das Gespräch führte Lukas Eisenhut