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Kinderpornografie in NRWDie Hälfte der Tatverdächtigen ist selbst minderjährig

Lesezeit 9 Minuten
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In diesem Wohnwagen auf einem Campingplatz in Lügde wurden laut Staatsanwaltschaft Detmold 1000 Einzeltaten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern innerhalb von rund zehn Jahren begangen.

  1. Sven Schneider, 47, ist Kriminaloberrat und leitet seit 2018 beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen in der Abteilung Cybercrime die Zentrale Auswertungs- und Sammelstelle Kinderpornografie.
  2. Die Aufdeckungen in Lügde hätten zu bedeutenden Veränderungen in Personal und Technik geführt.
  3. Für den großen Anteil jugendlicher Tatverdächtiger seien auch bizarre Challenges auf TikTok verantwortlich.

DüsseldorfHerr Schneider, die polizeiliche Kriminalitätsstatistik verzeichnet rückläufige Straftaten, mit einer Ausnahme: Es wurden deutlich mehr Fälle von sexualisierter Gewalt an Kindern registriert. NRW, Bayern und Baden-Württemberg verzeichnen Zuwächse von mehr als 100, Berlin sogar bis zu 200 Prozent. NRW-Innenminister Herbert Reul bezeichnete die Zuwachszahlen als "Leistungsquote der Polizei". Sind das am Ende also gute Nachrichten?Sven Schneider: Ja, das sind auf jeden Fall gute Nachrichten. Wir konnten das Dunkelfeld, das nach Schätzung des Bundesjustizministeriums von 2018 achtmal so groß ist wie das Hellfeld, weiter ausleuchten. Und natürlich besteht ein Zusammenhang zwischen höherem Personaleinsatz und dem Anstieg der registrierten Fälle. In NRW sind die Fallzahlen in den Jahren 2020 und 2021 um jeweils mehr als 100 Prozent angestiegen. Im selben Zeitraum haben wir das Personal vervierfacht. Es ist wie ein Schneeballsystem. Wir fassen einen Tatverdächtigen und finden auf seinem Computer oder Handy ein Netzwerk mit Hinweisen auf weitere Tatverdächtige.

Könnte nicht auch ein echter Zuwachs an Taten für den Anstieg mitverantwortlich sein?

Es könnte auch zu einem gewissen Teil einen echten Zuwachs an Taten geben, zumindest ist dies nicht gänzlich auszuschließen. Trotzdem ist der Zuwachs überwiegend auf mehr Personal, bessere Technik und neue Prozesse zurückzuführen.

Alles zum Thema Herbert Reul

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Sven Schneider

Was war Ihr jüngster Fahndungserfolg?

Wir haben eigentlich täglich Erfolge. Allein im vergangenen Jahr haben wir rund 10.000 Verdachtsmeldungen erhalten. Zuletzt ermittelten wir einen Mann, der entsprechende Bilder verbreitet hat. Wir durchsuchten seine Wohnung und stellten fest, dass er in einem großen Netzwerk aktiv ist und dort auch eine zentrale Rolle spielt. Und es stellte sich heraus, dass er nicht nur Bilder verbreitet, sondern aktiv Kinder missbraucht. Auch wenn es schrecklich klingt, für uns ist das nichts Außergewöhnliches mehr.

NRW hat mit Lügde, Bergisch Gladbach und Münster gleich drei große Missbrauchsskandale innerhalb nur weniger Jahre zu verzeichnen. Es wurde der Vorwurf laut, der Polizei fehle es bei der Jagd auf die Täter an Personal und Expertise. Heute gilt NRW als Vorreiter. Was haben Sie geändert?

Wir haben 2018 die Landesarbeitsgruppe Kinderpornografie gegründet und etwas später kam im Ministerium die Stabsstelle Kinderpornografie dazu. Wir haben Personal aufgestockt, eine Infrastruktur mit einer Polizei-Cloud geschaffen, auf die alle Kreispolizeibehörden zugreifen können. Die Daten werden mithilfe einer speziellen forensischen Software vorsortiert und für die Mitarbeitenden aufbereitet. Die Vernetzung ermöglicht es, dass alle Behörden im Bedarfsfall gemeinsam an großen Fällen arbeiten können. Sollte etwa bei einem besonderen Fall etwa in Bonn mehr Personal benötigt werden, können wir so spontan aus anderen Städten Personal kollaborativ an dem Fall arbeiten lassen. Auf diese Weise konnten wir die Ermittlungen erheblich beschleunigen, mehr Täter überführen und mehr Kinder aus dem Missbrauch befreien. Unsere Aufklärungsquote liegt bei etwa 90 Prozent.

Der Fall in Lügde, wo mehrere Männer auf einem Campingplatz ungestört jahrelang Kinder missbrauchen konnten, war ein Schock, auch für das öffentliche Bewusstsein. Die Brutalität der Täter, das Versagen der Jugendämter, aber auch der Polizei hat viele Menschen fassungslos gemacht und letztlich zu einer Gesetzesverschärfung geführt. Hat der Skandal auch in anderen Bundesländern ein Umdenken gebracht?

Meine zentrale Auswertungs- und Sammelstelle zur Bekämpfung von Missbrauchsabbildungen gibt es bereits seit dem Jahr 2003 und die erwähnte Landesarbeitsgruppe wurde schon vor Bekanntwerden von Lügde eingerichtet. Das Handlungsfeld wurde also sowohl in der NRW-Polizei als auch im NRW-Innenministerium bereits vor Lügde erkannt und adressiert. Lügde hat in NRW aber den öffentlichen Diskurs angetrieben, in der Berichterstattung und auch in der Politik. Ich komme gerade von einer zweitägigen Bund-Länder-Konferenz der Polizei zum Thema Bekämpfung von Kindesmissbrauchsabbildungen. Es fiel auf, dass alle Bundesländer inzwischen mehr Meldungen bekommen, aber längst nicht alle deshalb mehr Personal zur Verfügung stellen. In einigen Ländern ist das Bewusstsein für dieses Deliktfeld weder im öffentlichen Diskurs noch in der Politik so ausgeprägt, wie es vielleicht sein sollte. Ich glaube, so manche Kolleginnen oder Kollegen, die in diesem Bereich arbeiten, wünschen sich ein Lügde auch in ihrem Bundesland. Natürlich nicht für die Opfer, sondern weil wahrscheinlich nur die Aufdeckung einer solchen Tat bedeutende Veränderungen antreibt.

Zu den großen Veränderungen gehören auch technische Innovationen. Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz bei der Auswertung von Bildern und Videos?

Wir sind in den Ermittlungen mittlerweile konfrontiert mit gigantischen Datenmengen, die mitunter im Petabyte-Bereich liegen. Die KI kann aus einem Datensatz recht schnell die Bilder anzeigen, die womöglich Kinderpornografie zeigen. Auf diese Weise können wir priorisiert auswerten. Das ist eine Erleichterung, aber auch nicht viel mehr. Ich erinnere mich noch an die Pressekonferenz des Justizministeriums von NRW und Microsoft, in der man verstehen konnte, dass die KI in der Lage sei, Auswertung zu betreiben, also zum Beispiel genaue Merkmale bei einem Täter oder dem Opfer zu identifizieren, die uns dann weiterhelfen. Das ist leider nicht so. Von 100 Bildern, die potenziell Missbrauchsdarstellungen zeigen, erkennt die KI 90. Die restlichen zehn verschwinden dann wie in einem riesigen Heuhaufen. Die aber wollen wir nicht einfach verloren geben. Hinter jedem Bild könnte ein Kind stehen, das aktuell missbraucht wird und gerettet werden könnte. Unser Anspruch ist es daher, auch die übrigen zehn Bilder auszuwerten. Auf der anderen Seite gibt es auch unter den 90 Bildern einige, die bei genauem Hinschauen nichts mit Missbrauch zu tun haben. Am Ende also braucht man noch immer Menschen, die die KI kontrollieren und das eigentliche Auswerten erledigen.

Ein neues Phänomen ist, dass unter den Tatverdächtigen auch viele Minderjährige sind. Also etwa bei kinderpornografischen Bildern, die von Schülern beispielsweise in Klassenchats geteilt werden. Wie groß ist dieses Problem?

Wir sehen, dass die Zahlen dramatisch steigen. Inzwischen sind fast 50 Prozent der Tatverdächtigen im Deliktfeld Kinderpornografie selbst noch Kinder oder Jugendliche. Dabei muss man zwei Gruppen unterscheiden: Die einen teilen in WhatsApp-Gruppen kinderpornografische Bilder oder Videos, die manchmal auch mit vermeintlich lustigen Liedchen unterlegt sind. Zum Beispiel, wie zwei Jungen nackt den Analverkehr simulieren. Manche machen das völlig naiv und unreflektiert, andere wollen vielleicht nur zeigen, was für schlimme Sachen es so gibt. Was aber bleibt: Es ist ein Straftatbestand. Und da WhatsApp zum US-amerikanischen Konzern Meta gehört, bekommen wir von dort wiederum die Hinweise, denen wir nachgehen müssen, und stehen immer häufiger vor Kindern, die jünger als 14 Jahre alt und somit strafunmündig sind. Da wird dann das Handy auf Werkseinstellung zurückgesetzt und das war es dann.

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Eine Kriminaloberkommissarin sitzt vor einem Auswertungscomputer bei Ermittlungen gegen Kinderpornografie und sexuellem Missbrauch.

Und die andere Gruppe?

Das sind Kinder und Jugendliche, die sich in einer Art sexueller Orientierungsphase befinden, sich etwa selbst nackt filmen und das dann verbreiten. Wir hatten zuletzt ein größeres Problem wegen einer Challenge, die auf TikTok die Runde machte. Die hieß: Wenn ich du wäre. Da sagt dann jemand zum Beispiel: "Wenn ich du wäre, würde ich mich nackt ausziehen und an mir rummanipulieren." Die Kinder machen das und stellen es ins Netz. Auch hierbei handelt es sich um Kinderpornografie. Der Ermittlungsaufwand, den wir betreiben müssen, ist genauso groß wie bei anderen Fällen, da wir ja vorher nicht wissen, ob das Material freiwillig selbst hergestellt wurde und wie alt die Person hinter der gemeldeten IP-Adresse ist. Das kostet viel Zeit und bindet Personal. Beide Gruppen eint dasselbe Problem, nämlich mangelnde Medienkompetenz.

Was kann man dagegen tun?

Man muss hier präventiv eingreifen und insbesondere an Schulen Medienkompetenz vermitteln. Es gibt dazu einige Projekte, unter anderem von der Landesmedienanstalt NRW, aber auch von der Polizei. In Bayern hat man zu diesem Thema mit einem Influencer zusammengearbeitet, der auf TikTok aufklärt. Das sind sicher ganz gute Wege.

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Die halbstaatliche Organisation National Center for Missing & Exploited Children (NCMEC) in den USA ist für die Bekämpfung von Kindesmissbrauch einer Ihrer wichtigsten Verbündeten. Warum?

Nahezu alle großen Provider und Social-Media-Anbieter sitzen in den Vereinigten Staaten. Sie sind gesetzlich verpflichtet, verdächtige Daten ihrer Nutzer aus aller Welt an die Behörden weiterzugeben. Den Workflow zwischen BKA und NCMEC gibt es seit 2014, seitdem erhalten wir Hinweise aus den USA, die sich auf mögliche Straftaten in Deutschland beziehen. Für uns gehört es zu den wichtigsten Instrumenten, um Verfahren zu generieren. Das BKA ermittelt auf Basis der gelieferten IP-Adressen die Bundesländer und gibt die Fälle an das entsprechende LKA ab. Allein in NRW haben wir in den vergangenen zwölf Monaten mehr als 10.000 Hinweise von NCMEC erhalten. Das ist auch der mit Abstand größte Anteil. Aber natürlich bekommen wir auch Hinweise aus der Bevölkerung und aus polizeilichen Ermittlungen.

Auch in Deutschland versucht man, an Daten von Providern zu kommen.

Ja, mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das am 1. Februar in Kraft getreten ist. Seitdem sollen auch hierzulande die Provider liefern. Aber sie tun es nicht, sondern haben Klage am Verwaltungsgericht Köln eingereicht und zunächst Recht bekommen. Das geht jetzt erst mal in die zweite Instanz. Ich hoffe aber, dass sich auf EU-Ebene etwas tut. Hier soll noch in diesem Jahr der Digital Service Act auf den Weg gebracht werden. Das wäre dann das europäische Pendant zu NCMEC.

Für die Auswertung der sichergestellten und schier unglaublichen Datenmengen kinderpornografischen Materials hat das LKA in NRW Zivilpersonen angestellt. Hat sich das bewährt?

Wir beschäftigen in meinem Dezernat im LKA NRW inzwischen 70 zivile Personen, die aber derzeit nur noch mit der Auswertung der NCMEC-Meldungen befasst sind. Sie ermitteln also Wohnadressen zu den IPs, analysieren aber auch weiterhin einschlägiges Datenmaterial, welches in jedem Fall mitgeliefert wird. Unsere ursprüngliche Idee, die gesamte Auswertung sichergestellter Bilder und Videos im LKA zu zentralisieren, konnten wir nicht realisieren. Das liegt an der schieren Datenflut. Das konnten wir damals noch nicht ahnen. Wir hätten noch sehr viel mehr Leute anstellen und ein ganzes Haus anbauen müssen, um sie alle bei uns unterzubringen. Also machen wir es wieder wie früher: Die Kreispolizeibehörden werten das Material selbst aus. Das LKA unterstützt in besonderen Verfahren.

Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen blicken nun bereits seit Jahren in menschliche Abgründe. Gab es eine Situation, in der Sie dachten, Sie könnten nicht mehr weitermachen?

Die gab es nicht und wird es hoffentlich auch nicht geben. Auch bei meinen Kolleginnen und Kollegen gab es bislang niemanden, der aufgeben wollte. Die Motivation, Täter zu überführen und Kinder zu befreien, ist extrem groß. Aber natürlich macht es etwas mit einem Menschen, wenn er den ganzen Tag solche Bilder anschauen muss. Deshalb setzen wir auf Freiwilligkeit. Zudem haben wir eher polizeiuntypische Dinge umgesetzt, wie Supervision, und ein besonderes Arbeitsklima. Achtsamkeit und das Erhalten der psychischen Gesundheit spielen wichtige Rollen. Wir alle hier sind weiterhin hoch motiviert, ganz unabhängig von der öffentlichen Wahrnehmung. Auch wenn wir genau wissen, dass wir letztlich nur Einzelerfolge erzielen, aber den Sieg nie erringen werden.