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Landarztprogramm NRW macht es möglichWie Hanna ohne Abitur Medizin studieren kann

Lesezeit 6 Minuten
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  1. Der Kampf um Studienplätze in der Medizin ist erbittert, ein Abi mit Bestnoten die Grundvoraussetzung.
  2. Eigentlich. Hanna ist eine von wenigen, die Medizin studieren kann, obwohl sie nur die Hauptschule besucht hat.
  3. Eine Erfolgsgeschichte.

Münster – Fünf Seiten gelochtes Papier werden Hannas Zukunft bestimmen. Wo sie mal wohnen und arbeiten wird, wo ihre Kinder zur Schule gehen werden. Ein Vertrag, den die 24-Jährige mit zittriger Hand und Freudentränen in den Augen unterschrieben hat. Hanna hat sich dazu verpflichtet, nach ihrem Studium als Hausärztin auf dem Land zu praktizieren. Dieser Vertrag ist ihre einzige Chance, Ärztin zu werden. Denn eine Menge spricht gegen ihren großen Traum: Hannas Konzentrationsschwäche und ihre schlechten Noten. Ihre Familie, in der noch niemand studiert hat. Und das fehlende Einser-Abi. Denn Hanna hat gar kein Abitur.

Auf dem kleinen Hof am Rande von Ochtrup mit großen, grünen Scheunentoren und einem kleinen Traktor fängt alles an. Ihren Berufswunsch hat sie mit vier Jahren, die Diagnose ADHS beim Kinderpsychologen auch. Mit kleinen Plastikspritzen behandelt Hanna ihre Puppen, die ihre Mutter, eine Krankenschwester, aus dem Krankenhaus mitgebracht hat. Da war es keine Überraschung mehr, als sie beim Abendessen verkündete, Ärztin werden zu wollen. Alle haben gelacht.

Hannas Grundschulzeit war frustrierend

„Meine Grundschulzeit war echt frustrierend“, sagt Hanna. Manchmal muss sie an einige solcher Momente denken. An die Ecke im Klassenraum ganz hinten, in die sie immer gesetzt wurde, weil sie ihre Impulse nicht unter Kontrolle hatte und zappelig war. Weil ihre Lehrerin mit der Situation und mit Hannas Krankheit überfordert war.

Hanna erklärt, wie es sich für sie anfühlte: „Das mit der Konzentrationsstörung ist ein bisschen so, als würde man in einem Raum mit 100 springenden und bunten Flummis stehen. Und als müsste man sich dann auf einen einzigen davon konzentrieren. Wir Kinder mit ADHS werden in der Schule schnell zum Klassenclown.“

NRWs Landarztprogramm als Chance

Nach ihrem qualifizierten Hauptschulabschluss, der so viel Wert ist wie ein Realschulabschluss,  macht Hanna dann eine Ausbildung zur Ergotherapeutin. „Wenn ich für etwas so brenne, wie für die Medizin, dann steht mir auch meine Konzentrationsschwäche nicht im Weg“, sagt sie. Irgendwann schleicht sich aber das Gefühl der Unterforderung ein.

„Für mich war der Job nicht mehr so erfüllend wie am Anfang.“ Ihr Anatomie-Dozent wittert, dass Hanna beruflich noch nicht ganz angekommen ist, und überredet sie dazu, sich nach alternativen Wegen ins Medizinstudium umzuschauen.

Dabei wird sie auf das Landarztprogramm des Landeszentrums für Gesundheit in Nordrhein-Westfalen (NRW) aufmerksam: Alle, die sich dazu verpflichten, nach ihrem Studium als Hausärztin oder Hausarzt auf dem Land zu arbeiten, und eine Berufsausbildung gemacht haben, bekommen die Chance auf einen Platz. Wer gegen den Vertrag verstößt, muss 250.000 Euro zahlen. Das ist die Summe, die ein Medizinstudium den Staat kostet.

Ein Abitur ist nicht zwingend nötig. Bewerber ohne Abitur starten aber mit viel schlechteren Bedingungen in die Bewerbungsphase. Da sie keine Abschlussnote haben, wird bei ihnen im Auswahlverfahren mit einer 4,0 gerechnet. Alle mit Abitur haben meist einen deutlich besseren Durchschnitt.

527 Studienplätze wurden über das Programm vergeben

Seit 2019 wurden über das Landarztprogramm in NRW 527 Studienplätze vergeben, davon studieren aktuell noch 496 Personen. Zu dem Zeitpunkt gab es nach Angaben des Gesundheitsministeriums NRW landesweit rund 11.500 Hausärzte. Einer dieser Studienplätze ging an Hanna. Damit ist sie derzeit eine von vier in ganz NRW, die ohne Abitur über das Programm Medizin studieren. Als die Zusage kommt, muss Hanna weinen. Vor Glück, vor Erleichterung und weil sich die harte Arbeit endlich für sie ausgezahlt hat.

Uni Münster. Die berühmte 0-Woche, die erste Woche des Studiums. Die Gelegenheit, an der sich alle Studenten zum ersten Mal sehen, austauschen und zusammen feiern. Hanna hat sich eigentlich fest vorgenommen, geschickt vom Thema Abitur abzulenken, falls jemand danach fragen sollte. Zu groß ist ihre Angst, weniger ernst genommen zu werden.

Nicht alle an der Uni sind mit Hannas Weg einverstanden

Mit einer Sache hat sie nicht gerechnet. „Die Abiklausuren waren so ziemlich das Einzige, worüber die Studenten in der ersten Zeit gesprochen haben. Das ist so ein Medizinerding, glaube ich“, sagt sie. Also kommt dann doch raus, dass Hanna nur auf einer Hauptschule war. „Damit hast du dir es aber ziemlich einfach gemacht“, sagt eine ihrer Kommilitoninnen.

Ganz so einfach war es nicht: drei Jahre Ausbildung zur Ergotherapeutin mit guten Ergebnissen, dazu weitere drei Jahre Berufserfahrung mit 55-Stunden- Wochen. Etliche Auswahlverfahren, Mediziner- und Empathietests und das Versprechen, zehn Jahre lang auf dem Land zu praktizieren – all das hat es gebraucht, um sich für einen Studienplatz in der Medizin zu qualifizieren. Trotzdem fürchtet Hanna, dass künftige Patienten oder Arbeitgeber ihr aufgrund ihres fehlenden Abiturs weniger Vertrauen schenken könnten. Deshalb möchte sie ihren wirklichen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen.

Erstes Semester mit Startproblemen

„Das erste Semester war super“, sagt Hanna. „Aber auch ein bisschen hart.“ Denn ihr letzter Schultag ist nicht erst ein paar Monate her, wie bei den meisten ihrer Kommilitonen, sondern mehr als sechs Jahre. Und das Studium setzt da an, wo der Abitur-Lernstoff aufhört. Grundlagen aus der Oberstufe in Biologie, Chemie und Physik fehlen Hanna komplett. Vorkurse hätten helfen können, werden in Münster aber nicht angeboten. Mit Fleiß und Unterstützung von Freunden besteht sie trotzdem alle Klausuren. Viele ihrer Kommilitonen sind ziemlich überrascht, als Hanna sie bei den Noten sogar übertrifft.

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„Ich weiß, dass es noch sehr lange dauert, bis ich eine richtige Ärztin bin. Aber immer, wenn ich meinen Kittel anziehe, dann denke ich daran, was ich schon geschafft habe und was aus mir noch alles werden kann“, sagt Hanna. Um sich ihr Studium zu finanzieren, will sie nebenbei weiter als Ergotherapeutin arbeiten. Ihre Eltern haben schon ihre Ausbildung finanziert. Sie jetzt noch mit den Kosten eines Studiums zu belasten – das kommt für sie nicht infrage.

Mit ihrer Diagnose kommt sie mittlerweile besser zurecht

Wenn Hanna im Hörsaal sitzt und sich konzentrieren will, reicht manchmal schon das Tippen ihrer Kommilitonen auf dem Smartphone-Bildschirm oder der Laptop-Tastatur, um sie aus dem Konzept zu bringen. Ansonsten hat sie ihr ADHS im Griff. „Je älter man wird, desto besser lernt man, damit umzugehen“, sagt sie und lächelt. „Ich wünschte, das hätte ich schon vor ein paar Jahren gewusst. Dann hätte ich mir viele Sorgen erspart.“

Ihre alte Hauptschule liegt nicht weit von ihrem Elternhaus entfernt. Während Hanna über ihren ehemaligen Schulhof schlendert, spricht sie ein wenig langsamer und wird nachdenklich. Sie läuft an der Ecke vorbei, in der sie in den Pausen mit ihren Freunden stand und Pläne für ihre Zukunft schmiedete. „Ich bin jetzt Medizinstudentin”, sagt sie mehr zu sich selbst. „Wer hätte das gedacht.”