AboAbonnieren

16-Jähriger von Polizei erschossen„Unser Bruder ist unschuldig. Er ist getötet worden wie ein Tier“

Lesezeit 5 Minuten
Sidy und Lassana Dramé stehen in den Räumen ihrer Rechtsanwältin hinter einem Foto ihres von Polizeischüssen getöteten Bruders Mouhamed Dramé.

Sidy und Lassana Dramé stehen in den Räumen ihrer Rechtsanwältin hinter einem Foto ihres von Polizeischüssen getöteten Bruders Mouhamed Dramé.

Seit kurz vor Weihnachten läuft der Prozess um einen tödlichen Polizeieinsatz in Dortmund. Nun äußern sich Mouhamed Dramés Brüder.

Was in Sidy und Lassana Dramé vorgehen mag, als sie das erste Mal dem Polizisten ins Gesicht blicken, der in einem Einsatz vor eineinhalb Jahren ihren Bruder getötet hat, ist ihren gefassten, aber traurigen Mienen nicht zu entnehmen. Erschöpft sehen sie aus, die Augen gerötet. Den fünf Polizisten und Polizistinnen auf der Anklagebank ist auch nicht anzusehen, was sie fühlen. Sie scheinen den Blick in die Augen der Nebenkläger zu meiden. Der Anwalt des Schützen wird nachher sagen: „Auf beiden Seiten habe ich da Traurigkeit gesehen“.

Seit kurz vor Weihnachten läuft der Prozess um einen letztlich tödlichen Polizeieinsatz: Die Beamten waren am 8. August 2022 auf das Gelände einer Jugendhilfeeinrichtung in Dortmund ausgerückt. Sie waren gerufen worden, weil sich der 16-jährige Mouhamed Dramé ein Küchenmesser gegen den Bauch hielt – vermutlich in der Absicht, sich selbst zu töten.

Er wurde von der Polizei erst mit Pfefferspray, dann mit Tasern angegangen. Schließlich schoss ein Polizist mehrfach mit einer Maschinenpistole. Dem Schützen wird nun Totschlag vorgeworfen. Vier weitere Polizisten sind wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt, ihr Einsatzleiter wegen Anstiftung zu dieser.

Dramé-Brüder im Pressegespräch: Was für ein Mensch war ihr Bruder?

Den Beginn der strafrechtlichen Aufarbeitung vor dem Landgericht mit Verlesung der Anklage und Vernehmung erster Zeugen konnten die Brüder Dramé nicht im Gerichtssaal verfolgen. Es fehlte lange das nötige Visum, auch mussten erst Spenden für ihre Reise nach Deutschland gesammelt werden, wie die Anwältin Lisa Grüter sagt.

Demonstranten stehen mit Plakaten, die das Porträt des 16-jährigen Senegalesen Mouhamed Drame zeigen, vor dem Dortmunder Landgericht. (Archivbild)

Demonstranten stehen mit Plakaten, die das Porträt des 16-jährigen Senegalesen Mouhamed Drame zeigen, vor dem Dortmunder Landgericht. (Archivbild)

Am Tag zuvor sitzen Sidy und Lassana Dramé in der Kanzlei ihrer Anwältin. Ein gerahmtes Bild von Mouhamed steht vor ihnen auf der Tischplatte. Um sie an ihrem ersten Tag in einem deutschen Gericht von den Fragen der Journalisten abzuschirmen, soll es in einem Pressegespräch Antworten auf Fragen der Medienvertreter geben. Was ihr Bruder für ein Mensch gewesen sei, will einer gleich zu Anfang wissen.

„Er hat uns alle unterstützt. Er hat uns so viel Liebe geschenkt“

„Mouhamed war ein Familienmensch. Er hat uns alle unterstützt. Er hat uns so viel Liebe geschenkt“, übersetzt ein Dolmetscher aus der senegalesischen Landessprache Wolof die Worte der Brüder. Sidy, mit 37 Jahren der älteste von neun Geschwistern, den Grüter als das Sprachrohr der Familie bezeichnet, spricht leise, aber bestimmt. Zwischendrin ergänzt auch der 24-jährige Lassana etwas von seinen Erinnerungen. Vom Tod ihres Bruders hörten sie kurz nach den Geschehnissen. Facebook und andere Online-Kanäle brachten die Nachricht, die zunächst alle für einen Fake hielten, bis in das kleine senegalesische Dorf, in dem die Familie lebt.

In einem Videotelefonat vor seinem Tod erwähnte Mouhamed keine Probleme

Sie alle seien sehr traurig, sagt Sidy. Das ganze Dorf sei traurig, auch viele Menschen aus den umliegenden Dörfern hätten ihre Beileidsbekundungen überbracht, schildert er. „Er war ein sehr braver Junge, der alles getan hat, damit seine Familie in einer guten Lage ist“, erinnert sich Sidy. Dann unterbricht er sich selbst. Weiter von Mouhamed zu erzählen, würde andere Gefühle wecken.

Noch am Tag vor seinem Tod hatte es ein Videotelefonat gegeben. „Immer, wenn er mit uns gesprochen hat, hat er gesagt, dass er uns allen helfen wird, wenn er es schafft“, erinnert sich der große Bruder. Dass es ihm schlecht gehe, habe er nicht erwähnt. Inzwischen dürften die Brüder aus Berichten über die Ermittlungen und den Prozess wissen, dass Mouhamed am Wochenende vor seinem Tod in einer psychiatrischen Klinik Suizidgedanken geäußert haben soll. Er war danach zurück in die Einrichtung geschickt worden, wo er kurz danach das Messer auf sich selbst richtete.

William Dountio, inzwischen ein Freund der Familie, der sich von Dortmund aus mit dem Solidaritätskreis für Mouhamed für eine Aufarbeitung der Geschehnisse und die Angehörigen einsetzt, ergänzt erklärend: „Geflüchtete teilen ihr Leid nicht. Sie versuchen die Familie zu schützen.“

Sidy Dramé: „Hätten sie doch nur auf die Beine geschossen“

Nur einmal wird Sidy Dramé lauter, aus seinen energischen Gesten spricht plötzlich Wut, die er sonst zu zeigen vermieden hat: „Unser Bruder ist unschuldig. Er ist getötet worden wie ein Tier“, übersetzt der Dolmetscher. Dabei behandelten die Deutschen doch sogar Tiere wie Menschen. Der Familienvertraute Dountio ergänzt, auch aus Gesprächen mit dem Vater zu wissen, dass es der Familie bei der Betrachtung des Todes ihres Sohnes genau an jenem geduldigen Kümmern, jener Sorgfalt fehle, die in Deutschland sogar Tieren zuteilwerde. „Wieso haben sie nicht abgewartet? Hätten sie doch nur auf die Beine gezielt, anstatt ihn uns tot zu schicken. Dann hätten wir uns um ihn kümmern können“, sagt Sidy.

Der vierte Prozesstag wird kurz ausfallen: Der Vorsitzende Richter verliest Einsatz- und Spurenberichte der nach den Schüssen eingesetzten Mordkommission, dann ist es auch schon fast vorbei. „Das wird die beiden mächtig mitgenommen haben“, sagt Anwältin Lisa Grüter im Anschluss. Den Menschen in die Augen zu blicken, die für den Tod ihres Bruders verantwortlich seien, sei so belastend wie wichtig für die beiden Brüder.

„Sie möchten die Zeit, die sie hier sind, dafür nutzen, so viele Verhandlungstage wie möglich mitzubekommen“, sagt sie. 90 Tage lang sei ihr Visum gültig. Damit steht ihrer Anwesenheit am kommenden Prozesstag am 21. Februar nichts im Wege. Bis zum Urteil dürfte es jedoch noch ein weiter Weg sein: Der Richter bittet am Mittwoch die Prozessbeteiligten für die weitere Planung mögliche Termine bis zum Juli zu nennen. (dpa)